Strategic Ambiguity als Relikt der Vergangenheit?

Joe Biden Foto: Joe Biden von Gage Skidmore unter CC BY-SA 2.0

von Sandro Pannagl

In den USA wird in jĂŒngster Zeit darĂŒber diskutiert, ob die derzeitige U.S.-Administration gerade dabei ist, die langjĂ€hrige Politik der sogenannten Strategischen AmbiguitĂ€t gegenĂŒber China und Taiwan aufzugeben. Angefacht wurde die Debatte von niemand geringerem als dem PrĂ€sidenten selbst.

Joe Biden verkĂŒndete am 25. April 2023 sein erneutes Antreten bei den U.S.-PrĂ€sidentschaftswahlen im nĂ€chsten Jahr. Neben der BewĂ€ltigung der Pandemie und dem Kampf gegen die stark gestiegene Inflation hat Biden auch im außenpolitischen Bereich eigene Pflöcke eingeschlagen. Zu den bekanntesten zĂ€hlen das entschlossene Bekenntnis zur UnterstĂŒtzung der Ukraine und die damit einhergehende Wiederbelebung militĂ€rischer BĂŒndnispakte wie der NATO sowie verstĂ€rkte KooperationsbemĂŒhungen mit den Staaten des Indopazifiks. Mit Blick auf die Chinapolitik der USA könnte man meinen, dass die Biden-Administration im Wesentlichen den Kurs von Donald Trump fortfĂŒhrt, wenn auch mit grĂ¶ĂŸerem diplomatischen FeingefĂŒhl. Dass dies jedoch nur die halbe Wahrheit darstellt und unter Biden möglicherweise gerade an einer fundamentalen Kehrtwende gearbeitet wird, zeigt sich insbesondere am Fall Taiwans.

AmbiguitĂ€t – vom Zufallsprodukt zum Mittel der Wahl

Die bisherige U.S.-Politik in der Taiwanstraße ist weniger klar als man auf den ersten Blick vermuten wĂŒrde und als Folge der komplexen Lage nach dem chinesischen BĂŒrgerkrieg (1927-1949) zu verstehen. Die Vereinigten Staaten unterstĂŒtzten im BĂŒrgerkrieg die Kuomintang-Partei, die China seit dem Jahr 1912 regierte, 1949 aber der Kommunistischen Partei unterlag. Die USA erkannten die Kuomintang nach ihrer Flucht auf Taiwan zunĂ€chst weiterhin als einzige legitime Vertretung Chinas an. Mit Beginn der Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der am Festland etablierten Volksrepublik China (VR China), vollzogen die USA in den 1970er Jahren eine radikale Kehrtwende und erkannten die kommunistische FĂŒhrung in Peking als einzig legitime Vertretung Chinas an. Obwohl die Vereinigten Staaten die diplomatischen KanĂ€le zur Regierung auf Taiwan – wie mit der VR China zuvor vereinbart – abbrachen und die Beziehung auf einen ausschließlich wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Austausch herabstuften, ließen die USA in den unterzeichneten Vereinbarungen mit China offen, ob sie Taiwan als Teil dieses Chinas ansehen. Die Lage wurde weiter verkompliziert, als der U.S.-Kongress im Jahr 1979 mit der Verabschiedung des Taiwan Relations Act jegliche zukĂŒnftigen Beziehungen mit China von einer friedlichen Lösung mit Taiwan abhĂ€ngig machte und die Vereinigten Staaten sogar explizit verpflichtete, Taiwan weiterhin bei der Aufrechterhaltung seiner militĂ€rischen VerteidigungsfĂ€higkeiten zu unterstĂŒtzen.

Diese scheinbare WidersprĂŒchlichkeit in der U.S.-Außenpolitik wurde spĂ€ter von Beobachter*innen mit dem Begriff policy of strategic ambiguity beschrieben, also einer bewusst vage gehaltenen, aber dennoch strategischen Herangehensweise an den Taiwankonflikt. Die USA lassen es dabei offen, ob sie in einem potenziellen Angriffskrieg Chinas auf Taiwan militĂ€risch intervenieren wĂŒrden. Diese unklare Positionierung erlaubt es der U.S.-Administration, sich im Konfliktfall den grĂ¶ĂŸtmöglichen Handlungsspielraum zu sichern. Die Unsicherheit ĂŒber eine etwaige militĂ€rische Involvierung der USA soll einerseits die chinesische Regierung vor einem Angriff auf Taiwan abschrecken, andererseits aber auch die Regierung auf Taiwan von der – seitens China als rote Linie erachteten – offiziellen Ausrufung der UnabhĂ€ngigkeit abhalten. Die Aufrechterhaltung des aus dem BĂŒrgerkrieg hervorgegangenen Status quo zwischen China und Taiwan galt den USA dabei bisher als oberste PrioritĂ€t.

Zeitenwende auf Amerikanisch?

Angesichts der zunehmenden Entschlossenheit der chinesischen Regierung die sogenannte „Wiedervereinigung“ mit Taiwan voranzutreiben sowie des immer grĂ¶ĂŸer werdenden MachtgefĂ€lles zwischen China und Taiwan, verweisen Strateg*innen jedoch auf die offensichtlichen UnzulĂ€nglichkeiten der strategischen AmbiguitĂ€tspolitik und fordern stattdessen ein klares Bekenntnis der USA, Taiwan im Fall eines chinesischen Angriffs militĂ€risch zu verteidigen. Strategic ambiguity wĂŒrde durch strategic clarity ersetzt werden. Und tatsĂ€chlich scheint U.S.-PrĂ€sident Biden gerade dabei zu sein, eine langsame Kehrtwende in der Chinapolitik einzuleiten.

Die Debatte ĂŒber eine mögliche Neuausrichtung der U.S.-amerikanischen Chinapolitik begann im August 2021 als PrĂ€sident Biden in einem Interview insinuierte, dass die USA dieselbe Beistandsverpflichtung gegenĂŒber Taiwan hĂ€tten, wie sie gegenĂŒber NATO-VerbĂŒndeten oder Staaten besteht, mit denen ein offizielles Abkommen existiert, wie beispielsweise Japan oder SĂŒdkorea. Damals bewerteten viele Analyst*innen die Wortwahl Bidens noch als Versprecher bzw. „unglĂŒcklich“, wie beispielsweise die Taiwanexpertin Bonnie Glaser. Und auch Berater*innen der Biden-Administration versicherten, dass sich die Politik hinsichtlich Taiwans nicht geĂ€ndert habe. An dieser Darstellung kamen jedoch erste Zweifel auf, als der PrĂ€sident nur zwei Monate spĂ€ter in einem CNN-Interview auf die Frage, ob die Vereinigten Staaten Taiwan im Fall eines Angriffs von China verteidigen werden, mit klarem Ja und Verweis auf ein bestehendes „Commitment“ geantwortet hat. Auch in diesem Fall waren Vertreter*innen des Weißen Hauses im Anschluss bemĂŒht zu betonen, dass keine Änderung der Taiwanpolitik verkĂŒndet wurde und die Beziehungen der USA mit Taiwan weiterhin durch den Taiwan Relations Act und die Ablehnung unilateraler Änderungen des Status quo geleitet wĂŒrden.

Der dritte, fast gleich gelagerte Vorfall ereignete sich im Mai 2022 im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem japanischen Premierminister Fumio Kishida in Tƍkyƍ, wo Biden abermals die Frage ĂŒber den Willen der USA Taiwan im Fall eines Angriffs zu verteidigen mit Verweis auf eine existierende Verpflichtung bejahte. Trotz darauffolgender Dementis aus dem Weißen Haus betonten MilitĂ€rexpert*innen wie beispielsweise der ehemalige U.S.-Marine-Oberst Grant Newsham, dass die Kommentare Bidens klar seien und ernst genommen werden sollten. Schließlich wiederholte Biden im September 2022 in der Interviewshow CBS 60 Minutes seine Aussagen erneut, wonach U.S.-Truppen Taiwan im Angriffsfall militĂ€risch beistehen wĂŒrden.

Die Statements von Joe Biden wurden auch in den beiden fĂŒhrenden U.S.-Tageszeitungen, Wall Street Journal und New York Times, rege diskutiert. Und auch hier zeigt sich, dass die Aussagen anfangs noch als Teil der bisherigen Strategie eingeordnet wurden. Das eher konservative Wall Street Journal hat sie als Bestandteil Bidens „regelmĂ€ĂŸiger öffentlicher Verwirrung“ abgetan. Je öfter der U.S.-PrĂ€sident jedoch seine Aussagen wiederholte, desto weniger gingen die Kommentator*innen von einem reinen Zufall aus und man schließt eine Abkehr von der bisherigen AmbiguitĂ€tspolitik nun nicht mehr völlig aus.   

Ignorieren geht nicht

Trotz der jeweiligen Korrekturen aus dem Weißen Haus nach jedem einzelnen der VorfĂ€lle gibt es mehrere GrĂŒnde, den Aussagen Bidens Beachtung zu schenken. Erstens sind seine Kommentare die bisher deutlichsten und unmissverstĂ€ndlichsten, die je ein U.S.-PrĂ€sident zu dieser Angelegenheit abgegeben hat. Noch unter PrĂ€sident Bill Clinton wurde eine UnabhĂ€ngigkeit Taiwans in jeglicher Form abgelehnt und auch die Eingliederung Taiwans in internationale Organisationen nicht gutgeheißen. Ähnlich klar lehnte auch sein Nachfolger Bush Jr. ein unabhĂ€ngiges Taiwan ab. Und wĂ€hrend sich Barack Obama in seiner Asienstrategie durch seinen kooperativen Ansatz klar von seinem Nachfolger Donald Trump unterschied, der einen Handelskrieg mit China vom Zaun brach, gingen beide nie so weit, Taiwan offen militĂ€rische UnterstĂŒtzung zuzusichern. Zweitens weichen Bidens Aussagen von seinen eigenen Positionen aus frĂŒherer Zeit als Senatsmitglied ab, in welchen er noch die Wichtigkeit der strategischen AmbiguitĂ€tspolitik betonte. Zu guter Letzt war es auch Biden, der als erster PrĂ€sident seit Ende der diplomatischen Beziehungen 1979 eine offizielle ReprĂ€sentantin Taiwans zur AmtseinfĂŒhrung einlud.

Ein Alleingang des PrÀsidenten oder Hinweis auf mehr?

Wie ernst es U.S.-PrĂ€sident Biden mit seinen Aussagen tatsĂ€chlich meint, wird man neben seiner zukĂŒnftigen Rhetorik vor allem an damit verbundenen faktischen Handlungen erkennen können. Das regelmĂ€ĂŸige Heraufbeschwören einer Neuausrichtung der U.S.-Außenpolitik, ohne diese mit Substanz zu untermauern, wĂŒrde Joe Biden im anstehenden Wahlkampf nicht nur als SchwĂ€che ausgelegt werden, sondern auch zu Verunsicherung unter U.S.-amerikanischen BĂŒndnispartnern ĂŒber die zukĂŒnftige Politik im Taiwankonflikt sowie zu unnötigen Provokationen Pekings fĂŒhren. Es ist unwahrscheinlich, dass es bei einem geopolitisch derart sensiblen Thema zu einem permanenten Abweichen von Worten und Taten kommen wird. Es bleibt also abzuwarten, ob Joe Biden in Zukunft rhetorisch zurĂŒckrudern muss oder die Zeit der strategischen AmbiguitĂ€tspolitik tatsĂ€chlich hinter uns liegt.