Sozialkreditsystem: Die Grenzen der Strafe

Chongqing / 重ćș† | Ciqikou / 磁晹揣 Foto: Chongqing / 重ćș† | Ciqikou / 磁晹揣 von Tauno TĂ”hk lizenziert unter CC BY-SA 2.0

von Konstantin Kladensky

Der chinesische Diskurs um das Sozialkreditsystem ist zwar von der Kommunistischen Partei dominiert, aber alles andere als einheitlich. Shen Kui, ein Jusprofessor aus Peking, ĂŒbt tiefgehende Kritik an den Rechtsgrundlagen des Systems.

In China wird das Sozialkreditsystem (SKS) mit Enthusiasmus erwartet. Das Projekt, das unter dem Slogan „Vertrauensverlust an einem Ort, EinschrĂ€nkungen an jedem Ort“ (äž€ć€„ć€±äżĄïŒŒć€„ć€„ć—é™) lĂ€uft, verspricht eine vertrauenswĂŒrdige und zivilisierte Gesellschaft. Es soll dabei helfen, Finanzierungen fĂŒr Klein- und Mittelbetriebe zu erleichtern, geistiges Eigentum zu schĂŒtzen und ungehobeltes Verhalten in der Öffentlichkeit zu unterbinden. Das gesamte zivilisatorische Niveau der chinesischen Gesellschaft soll gehoben werden, wenn man manchen Artikeln Glauben schenken darf.

AutoritÀre Tendenzen und uneinheitliche Umsetzung

Westliche Beobachter*innen hingegen nehmen das SKS Ă€ußerst negativ auf, da seine autoritĂ€ren Tendenzen offensichtlich sind. Diese BefĂŒrchtungen sind nicht unbegrĂŒndet. Die Regierung der ostchinesischen Metropole Nanjing verkĂŒndete auch das „Beschmutzen revolutionĂ€rer MĂ€rtyrer*innen“ in das System aufzunehmen, nachdem ein „MĂ€rtyrerschutzgesetz“ auf nationaler Ebene beschlossen wurde. Und auch die Internet-Sicherheitsbehörde wollte das Verbreiten von GerĂŒchten auf eine schwarze Liste des SKS setzen.

Doch das westliche Bild ist nicht immer ganz zutreffend. Gern gibt man sich ausschweifenden Science-Fiction-Fantasien hin, da man sich auf Technologie-Hypes und Buzzwords wie „Big Data“ konzentriert. Auf der anderen Seite steht eine Gegenposition, die meint, es werde nicht so heiß gegessen wie gekocht. Sie streicht heraus, wie unvollstĂ€ndig und fragmentiert das SKS bis jetzt ist. Auch wenn das chinesische Überwachungssystem bedenklich sei, sei es noch lange davon entfernt, dem Bereich kĂŒnstlicher Intelligenz auch nur nahezukommen.

Doch die Beschwichtiger*innen schießen ebenfalls ĂŒbers Ziel hinaus. Auch wenn Punktebewertungen fĂŒr Privatpersonen momentan nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie mehr als eine Wahnvorstellung westlicher Kritiker*innen. Das berĂŒchtigte SKS-Experiment der Stadt Rongcheng in der Provinz Shandong plante tatsĂ€chlich auch PunkteabzĂŒge fĂŒr „feudalen Aberglauben“, â€žĂŒbermĂ€ĂŸig extravagante Hochzeiten und Beerdigungen“, oder Rauchen im Rauchverbot ein. Auch andere Lokalregierungen stellen solche Bewertungen in ihren Werbevideos als einen zentralen Aspekt des zukĂŒnftigen SKS dar.

Ein unangenehmer Experte

Auch wenn sowohl die Kommunistische Partei als auch westliche Medien China gerne als einheitlich autoritĂ€re Gesellschaft darstellen, gibt es durchaus Raum fĂŒr Diskussion. FrĂŒhe Experimente des SKS wurden auch in Parteizeitungen kritisiert.

Unter den Kritiker*innen sticht vor allem Shen Kui (æȈćČż) heraus. Er ist Professor fĂŒr Verwaltungsrecht an der Peking UniversitĂ€t. Als Experte saß er schon in Kommissionen der chinesischen Regierung und beriet diese bei Themen wie Lebensmittelsicherheit.

Trotz der NĂ€he zur Regierung fĂ€llt er manchmal unangenehm auf: Nachdem der Minister fĂŒr Bildung 2015 dazu aufrief, die Verbreitung „westlicher Werte“ in UniversitĂ€ten stĂ€rker zu kontrollieren, veröffentlichte Shen Kui drei provokante Fragen, mit denen er auf die leere Rhetorik der Politiker abzielte. Anfang 2020 mahnte er, dass man Grundrechte auch der PandemiebekĂ€mpfung nicht unterordnen dĂŒrfe.

Schwammige Begriffe und großer Spielraum

Die oft von der Regierung beschworene moralische Gesellschaft, die das SKS aufbauen soll, sieht Shen lediglich als Vorwand. TatsĂ€chlich sollte man sich auf die Rechtsdurchsetzung konzentrieren. Dass dies nicht klar ist, rĂŒhrt seiner Meinung nach daher, dass die zentralen Begriffe „Credit“ (信甹) und „Vertrauensverlust“ (怱俥) kaum definiert sind. Vertrauensverlust wird manchmal mit Verbrechen gleichgesetzt, manchmal aber auch auf Lappalien angewandt.

Die Dokumente der Zentralregierung geben in der Tat vage Vorgaben und skizzieren das SKS, wie es vielleicht einmal aussehen könnte. Weil sie aber keinen klaren rechtlichen Rahmen vorgeben, lassen sie unterschiedlichen Lokalregierungen und sogar Privatunternehmen großen Spielraum bei der Mitgestaltung des SKS.

Dieses Grundproblem fĂŒhrt dazu, dass etwa die Stadtregierung in Rongcheng meint, selbst kleine Vergehen mit einem zusĂ€tzlichen Punkteabzug bestrafen zu mĂŒssen. Nanjings Stadtregierung wiederum folgt mit ihrer Verfolgung der Beschmutzung von MĂ€rtyrer*innen zwar einem „MĂ€rtyrerschutzgesetz“ auf nationaler Ebene, jedoch ist in diesem Gesetz keine Rede vom SKS.

Die Privatfirma Ant Group, bekannt durch ihren elektronischen Bezahldienst Alipay, ließ wiederum den Konsum von Videospielen in die Bewertung ihres „Sesame Credits“ mit einfließen, wĂ€hrend sich die großen Streaming-Anbieter zusammenschließen, um „vertrauensunwĂŒrdige“ Pop-Stars von ihren Plattformen auszuschließen.

Fehlender Bezug zum chinesischen Rechtsstaat?

Noch tiefer geht Shens Kritik an der fehlenden Rechtsstaatlichkeit. Auch wenn China nach westlichen Standards kein Rechtsstaat ist, nimmt es sich doch als „sozialistischer Rechtsstaat mit chinesischen Charakteristika“ war. Die chinesischen Behörden setzten in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen Maßnahmen zur StĂ€rkung des Rechtsbewusstseins. So eine Kritik trifft also nicht, wie man vielleicht meinen könnte, auf komplett taube Ohren.

Dass der Rechtsstaat in China noch nicht vollstĂ€ndig aufgebaut ist, so Shen, wird die Regulierung des SKS noch schwerer machen. Er kritisiert schon lĂ€nger, dass die Exekutive in China ihre Maßnahmen zu oft ohne legislative Grundlagen setzt. Auch das SKS wird grĂ¶ĂŸtenteils nur mit „normativen Dokumenten“ (规范性文件) der Exekutive reguliert.

Shen illustriert seine Kritik am SKS am Fall eines Soldaten aus Guizhou, der den MilitÀrdienst verweigerte. ZusÀtzlich zu den vorgesehenen Strafen im MilitÀrdienstgesetz verhÀngten die lokalen Behörden noch einige weitere Strafen, die ihn wirtschaftlich einschrÀnkten und von bestimmten sozialstaatlichen Absicherungen ausschlossen.

Shen: unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸige Koppelungen

Solche Strafen verletzen das Prinzip der VerhĂ€ltnismĂ€ĂŸigkeit (æŻ”ćˆ—ćŽŸćˆ™), die Mittel rechtfertigen den Zweck nicht. ZusĂ€tzlich kritisiert Shen, dass sie auch das Koppelungsverbot (äžćœ“è”ç»“çŠæ­ąćŽŸćˆ™) missachten. Er trifft damit genau ins Herz des SKS: Der eingangs erwĂ€hnte Slogan „Vertrauensverlust an einem Ort, EinschrĂ€nkungen an jedem Ort“ sieht vor, dass sich fehlerhaftes Verhalten in Bestrafungen in vielen anderen Bereichen niederschlĂ€gt. Das widerspricht aber dem Koppelungsverbot, das seiner Meinung nach einen sachlichen Zusammenhang zwischen administrativen Maßnahmen und den Einbußen von Privatakteur*innen fordert. Überlegungen, die mit einem Fall nicht direkt in Verbindung stehen, sollen darin nicht einfließen.

Die Debatte geht weiter

Der Slogan impliziert seiner Ansicht nach kaum anderes, als dass „Strafe und Abschreckung keine Grenzen mehr kennen“ (惩戒无èŸč界). Auf jedes Vergehen kann eine zusammenhanglose und unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig harte Strafe folgen. Shen Kui vergleicht das SKS sogar mit der antiken Strafe, Verbrecher im Gesicht zu tĂ€towieren (é»„ćˆ‘). Abgesehen von den auferlegten EinschrĂ€nkungen stellt man die Bestraften damit auch noch bloß.

Shen Kui hatte mit seiner Kritik ein wenig Erfolg. Manche Parteizeitungen unterstĂŒtzten seinen Appell, sich auf Rechtsdurchsetzung zu konzentrieren, anstatt Vorstellungen eines perfekten Menschen nachzujagen. ZusĂ€tzlich stellte die Zentralregierung klar, dass man aufgrund eines niedrigen Punktestands niemanden aus öffentlichen Dienstleistungen und Grundrechten ausschließen darf. Ende 2020 trug ein Dokument der Zentralregierung den Lokalregierungen auf, sich strenger an die Vorgaben zu halten. Das adressiert zwar das Problem ĂŒbereifriger Lokalkader, die sich mit besonders kreativen Regelungen hervortun wollen, lĂ€sst aber die primĂ€ren Fragen unangetastet. Wichtige Kader wiederholen Shen’s Kritikpunkte und rufen dazu auf eine klarere Rechtsgrundlage zu schaffen.

Shen Kui vertritt auch heute noch sein VerstĂ€ndnis des Koppelungsverbots als Grundproblem des SKS. Dabei wird ihm von manchen Kollegen Recht gegeben, wĂ€hrend ihm andere vorwerfen, das Koppelungsverbot ausweiten zu wollen. Es ist schwer zu beurteilen, ob es sich dabei tatsĂ€chlich um eine rein technische Debatte handelt, oder ob sich die unterschiedlichen PrioritĂ€ten und Moralvorstellungen der beiden Seiten nur auf diese Weise ausdrĂŒcken können.