Der chinesische Diskurs um das Sozialkreditsystem ist zwar von der Kommunistischen Partei dominiert, aber alles andere als einheitlich. Shen Kui, ein Jusprofessor aus Peking, ĂŒbt tiefgehende Kritik an den Rechtsgrundlagen des Systems.
In China wird das Sozialkreditsystem (SKS) mit Enthusiasmus erwartet. Das Projekt, das unter dem Slogan âVertrauensverlust an einem Ort, EinschrĂ€nkungen an jedem Ortâ (äžć€ć€±äżĄïŒć€ć€ćé) lĂ€uft, verspricht eine vertrauenswĂŒrdige und zivilisierte Gesellschaft. Es soll dabei helfen, Finanzierungen fĂŒr Klein- und Mittelbetriebe zu erleichtern, geistiges Eigentum zu schĂŒtzen und ungehobeltes Verhalten in der Ăffentlichkeit zu unterbinden. Das gesamte zivilisatorische Niveau der chinesischen Gesellschaft soll gehoben werden, wenn man manchen Artikeln Glauben schenken darf.
AutoritÀre Tendenzen und uneinheitliche Umsetzung
Westliche Beobachter*innen hingegen nehmen das SKS Ă€uĂerst negativ auf, da seine autoritĂ€ren Tendenzen offensichtlich sind. Diese BefĂŒrchtungen sind nicht unbegrĂŒndet. Die Regierung der ostchinesischen Metropole Nanjing verkĂŒndete auch das âBeschmutzen revolutionĂ€rer MĂ€rtyrer*innenâ in das System aufzunehmen, nachdem ein âMĂ€rtyrerschutzgesetzâ auf nationaler Ebene beschlossen wurde. Und auch die Internet-Sicherheitsbehörde wollte das Verbreiten von GerĂŒchten auf eine schwarze Liste des SKS setzen.
Doch das westliche Bild ist nicht immer ganz zutreffend. Gern gibt man sich ausschweifenden Science-Fiction-Fantasien hin, da man sich auf Technologie-Hypes und Buzzwords wie âBig Dataâ konzentriert. Auf der anderen Seite steht eine Gegenposition, die meint, es werde nicht so heiĂ gegessen wie gekocht. Sie streicht heraus, wie unvollstĂ€ndig und fragmentiert das SKS bis jetzt ist. Auch wenn das chinesische Ăberwachungssystem bedenklich sei, sei es noch lange davon entfernt, dem Bereich kĂŒnstlicher Intelligenz auch nur nahezukommen.
Doch die Beschwichtiger*innen schieĂen ebenfalls ĂŒbers Ziel hinaus. Auch wenn Punktebewertungen fĂŒr Privatpersonen momentan nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie mehr als eine Wahnvorstellung westlicher Kritiker*innen. Das berĂŒchtigte SKS-Experiment der Stadt Rongcheng in der Provinz Shandong plante tatsĂ€chlich auch PunkteabzĂŒge fĂŒr âfeudalen Aberglaubenâ, âĂŒbermĂ€Ăig extravagante Hochzeiten und Beerdigungenâ, oder Rauchen im Rauchverbot ein. Auch andere Lokalregierungen stellen solche Bewertungen in ihren Werbevideos als einen zentralen Aspekt des zukĂŒnftigen SKS dar.
Ein unangenehmer Experte
Auch wenn sowohl die Kommunistische Partei als auch westliche Medien China gerne als einheitlich autoritĂ€re Gesellschaft darstellen, gibt es durchaus Raum fĂŒr Diskussion. FrĂŒhe Experimente des SKS wurden auch in Parteizeitungen kritisiert.
Unter den Kritiker*innen sticht vor allem Shen Kui (æČćČż) heraus. Er ist Professor fĂŒr Verwaltungsrecht an der Peking UniversitĂ€t. Als Experte saĂ er schon in Kommissionen der chinesischen Regierung und beriet diese bei Themen wie Lebensmittelsicherheit.
Trotz der NĂ€he zur Regierung fĂ€llt er manchmal unangenehm auf: Nachdem der Minister fĂŒr Bildung 2015 dazu aufrief, die Verbreitung âwestlicher Werteâ in UniversitĂ€ten stĂ€rker zu kontrollieren, veröffentlichte Shen Kui drei provokante Fragen, mit denen er auf die leere Rhetorik der Politiker abzielte. Anfang 2020 mahnte er, dass man Grundrechte auch der PandemiebekĂ€mpfung nicht unterordnen dĂŒrfe.
Schwammige Begriffe und groĂer Spielraum
Die oft von der Regierung beschworene moralische Gesellschaft, die das SKS aufbauen soll, sieht Shen lediglich als Vorwand. TatsĂ€chlich sollte man sich auf die Rechtsdurchsetzung konzentrieren. Dass dies nicht klar ist, rĂŒhrt seiner Meinung nach daher, dass die zentralen Begriffe âCreditâ (俥çš) und âVertrauensverlustâ (怱俥) kaum definiert sind. Vertrauensverlust wird manchmal mit Verbrechen gleichgesetzt, manchmal aber auch auf Lappalien angewandt.
Die Dokumente der Zentralregierung geben in der Tat vage Vorgaben und skizzieren das SKS, wie es vielleicht einmal aussehen könnte. Weil sie aber keinen klaren rechtlichen Rahmen vorgeben, lassen sie unterschiedlichen Lokalregierungen und sogar Privatunternehmen groĂen Spielraum bei der Mitgestaltung des SKS.
Dieses Grundproblem fĂŒhrt dazu, dass etwa die Stadtregierung in Rongcheng meint, selbst kleine Vergehen mit einem zusĂ€tzlichen Punkteabzug bestrafen zu mĂŒssen. Nanjings Stadtregierung wiederum folgt mit ihrer Verfolgung der Beschmutzung von MĂ€rtyrer*innen zwar einem âMĂ€rtyrerschutzgesetzâ auf nationaler Ebene, jedoch ist in diesem Gesetz keine Rede vom SKS.
Die Privatfirma Ant Group, bekannt durch ihren elektronischen Bezahldienst Alipay, lieĂ wiederum den Konsum von Videospielen in die Bewertung ihres âSesame Creditsâ mit einflieĂen, wĂ€hrend sich die groĂen Streaming-Anbieter zusammenschlieĂen, um âvertrauensunwĂŒrdigeâ Pop-Stars von ihren Plattformen auszuschlieĂen.
Fehlender Bezug zum chinesischen Rechtsstaat?
Noch tiefer geht Shens Kritik an der fehlenden Rechtsstaatlichkeit. Auch wenn China nach westlichen Standards kein Rechtsstaat ist, nimmt es sich doch als âsozialistischer Rechtsstaat mit chinesischen Charakteristikaâ war. Die chinesischen Behörden setzten in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen MaĂnahmen zur StĂ€rkung des Rechtsbewusstseins. So eine Kritik trifft also nicht, wie man vielleicht meinen könnte, auf komplett taube Ohren.
Dass der Rechtsstaat in China noch nicht vollstĂ€ndig aufgebaut ist, so Shen, wird die Regulierung des SKS noch schwerer machen. Er kritisiert schon lĂ€nger, dass die Exekutive in China ihre MaĂnahmen zu oft ohne legislative Grundlagen setzt. Auch das SKS wird gröĂtenteils nur mit ânormativen Dokumentenâ (è§èæ§æ件) der Exekutive reguliert.
Shen illustriert seine Kritik am SKS am Fall eines Soldaten aus Guizhou, der den MilitÀrdienst verweigerte. ZusÀtzlich zu den vorgesehenen Strafen im MilitÀrdienstgesetz verhÀngten die lokalen Behörden noch einige weitere Strafen, die ihn wirtschaftlich einschrÀnkten und von bestimmten sozialstaatlichen Absicherungen ausschlossen.
Shen: unverhĂ€ltnismĂ€Ăige Koppelungen
Solche Strafen verletzen das Prinzip der VerhĂ€ltnismĂ€Ăigkeit (æŻććć), die Mittel rechtfertigen den Zweck nicht. ZusĂ€tzlich kritisiert Shen, dass sie auch das Koppelungsverbot (äžćœèç»çŠæąćć) missachten. Er trifft damit genau ins Herz des SKS: Der eingangs erwĂ€hnte Slogan âVertrauensverlust an einem Ort, EinschrĂ€nkungen an jedem Ortâ sieht vor, dass sich fehlerhaftes Verhalten in Bestrafungen in vielen anderen Bereichen niederschlĂ€gt. Das widerspricht aber dem Koppelungsverbot, das seiner Meinung nach einen sachlichen Zusammenhang zwischen administrativen MaĂnahmen und den EinbuĂen von Privatakteur*innen fordert. Ăberlegungen, die mit einem Fall nicht direkt in Verbindung stehen, sollen darin nicht einflieĂen.
Die Debatte geht weiter
Der Slogan impliziert seiner Ansicht nach kaum anderes, als dass âStrafe und Abschreckung keine Grenzen mehr kennenâ (æ©ææ èŸčç). Auf jedes Vergehen kann eine zusammenhanglose und unverhĂ€ltnismĂ€Ăig harte Strafe folgen. Shen Kui vergleicht das SKS sogar mit der antiken Strafe, Verbrecher im Gesicht zu tĂ€towieren (黄ć). Abgesehen von den auferlegten EinschrĂ€nkungen stellt man die Bestraften damit auch noch bloĂ.
Shen Kui hatte mit seiner Kritik ein wenig Erfolg. Manche Parteizeitungen unterstĂŒtzten seinen Appell, sich auf Rechtsdurchsetzung zu konzentrieren, anstatt Vorstellungen eines perfekten Menschen nachzujagen. ZusĂ€tzlich stellte die Zentralregierung klar, dass man aufgrund eines niedrigen Punktestands niemanden aus öffentlichen Dienstleistungen und Grundrechten ausschlieĂen darf. Ende 2020 trug ein Dokument der Zentralregierung den Lokalregierungen auf, sich strenger an die Vorgaben zu halten. Das adressiert zwar das Problem ĂŒbereifriger Lokalkader, die sich mit besonders kreativen Regelungen hervortun wollen, lĂ€sst aber die primĂ€ren Fragen unangetastet. Wichtige Kader wiederholen Shenâs Kritikpunkte und rufen dazu auf eine klarere Rechtsgrundlage zu schaffen.
Shen Kui vertritt auch heute noch sein VerstĂ€ndnis des Koppelungsverbots als Grundproblem des SKS. Dabei wird ihm von manchen Kollegen Recht gegeben, wĂ€hrend ihm andere vorwerfen, das Koppelungsverbot ausweiten zu wollen. Es ist schwer zu beurteilen, ob es sich dabei tatsĂ€chlich um eine rein technische Debatte handelt, oder ob sich die unterschiedlichen PrioritĂ€ten und Moralvorstellungen der beiden Seiten nur auf diese Weise ausdrĂŒcken können.