Interview mit Rebecca E. Karl zum Feminismus in China
von Sabine Hinrichs und David Lenz
Wie hat der Feminismus in China Fuß gefasst? Rebecca E. Karl beleuchtet Ursprünge und Entwicklung und erklärt, warum die häufig geführte Diskussion um die „Befreiung“ der Frau uns daran hindert, die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft zu verstehen.
Rebecca E. Karl ist Professorin für Geschichte an der New York University mit den Schwerpunkten Gender- und Gesellschaftstheorie. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, Artikel und Übersetzungen zur modernen chinesischen Geschichte, darunter der 2013 mitherausgegebene Band The Birth of Chinese Feminism. In ihrem neuesten Buch China’s Revolutions in the Modern World (2020) nimmt sie revolutionäre Bewegungen im modernen China unter die Lupe.
dasReispapier: Sie haben in Ihrer Forschung ausführlich über den frühen modernen chinesischen Feminismus geschrieben. Wie hat sich der Feminismus in China entwickelt?
Rebecca E. Karl: Ich bevorzuge, von der historischen Version des „Feminismus in China“ zu sprechen anstatt von der kulturalistischen Version des „chinesischen Feminismus“. Denn „Feminismus in China“ legt nahe, dass es zu bestimmten Zeiten auf der ganzen Welt eine familiäre Ähnlichkeit des Feminismus gab und dass Feminist*innen eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Set an Artikulationen haben. Aber diese Artikulationen unterscheiden sich von Ort zu Ort.
Wo würden Sie die Anfänge des Feminismus in China verorten?
Der Feminismus in China greift die Frage nach dem Patriarchat als Gesellschaftssystem, als Struktur des gesellschaftlichen Lebens, auf. Dieses Patriarchat existierte in China seit vielen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, und weltweit mindestens genauso lange. Es erwies sich als äußerst anpassungs- und widerstandsfähig und fand daher Eingang in viele Staats- und Wirtschaftsgebilde. Im Grunde begann der Feminismus in China als eine Strukturanalyse des Patriarchats im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Diese Entwicklung ist teilweise durch die Erkenntnis angetrieben, dass sich China in einer globalen Welt befindet, die eine Kritik an der Akzeptanz des bestehenden Systems erfordert, sei es im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder familiären Bereich. Beginnend mit einem „Womanismus“ der konservativ-liberalen Art versuchte man Frauen außerhalb des Haushaltes, abseits der Wahrnehmung als gute Ehefrauen und Mütter, in das Blickfeld zu bringen, als Menschen, die die neue Generation erziehen werden und die daher selbst gebildet werden müssen.
Mit einer radikaleren Kritik der Welt und einer radikaleren Kritik an China durch den Anarchismus, frühe Formen des Sozialismus und sogar frühe Formen des Liberalismus sehen wir einen viel umfassendere Ansatz. Im Gegensatz zum „Womanismus“ beginnt Feminismus wahrscheinlich mit He-Yin Zhen [何殷震, chinesische Feministin und Anarchistin, ca. 1884-1920?, Anm. der Redaktion]. Als Anarcho-Feministin konzentriert sich ihre Kritik von 1907-08 nicht nur auf das chinesische Gesellschaftsleben und die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen, sondern sie ist auch als Kritik der euro-amerikanischen Welt, Japans und der sogenannten „fortschrittlichen, zivilisierten Welt“ zu verstehen, die ebenso durch das Patriarchat gespalten und ebenso durch antifeministische Prinzipien strukturiert waren wie China. He-Yin legte somit wahrscheinlich eine der ersten ernsthaft totalistischen Kritiken des Lebens, nicht nur des chinesischen Lebens, sondern des Lebens im Allgemeinen, aus einer durch und durch feministischen Perspektive vor.
Was meinen Sie mit einer „totalistischen Kritiken des Lebens“?
In ihrem Essay Über die Rache der Frauen geht He-Yin mit den chinesischen Klassikern ähnlich um wie Simone de Beauvoir wesentlich später mit der Bibel in Das andere Geschlecht. Beauvoir untersuchte die Textgrundlage des europäischen Denkens und der sozialen Struktur in den ältesten uns zur Verfügung stehenden Texten. Vierzig Jahre zuvor ging He-Yin akribisch durch die chinesischen Klassiker und identifizierte, inwieweit die Klassiker auf dem Patriarchat aufbauen, von ihm durchdrungen und geprägt sind und wie dieses Patriarchat wiederum durch die Klassiker geprägt wird – von den kleinsten Aspekten des Alltags bis zur politischen Ordnung selbst. Ihre Kritik ist nicht bruchstückhaft. Sie gibt nicht vor, dass das große Ganze besser wird, wenn man nur diesen oder jenen ausgewählten Teil ändert. Ihre Kritik ist daher totalistisch.
Was ist das Vermächtnis von He-Yin Zhen im heutigen China?
He-Yin war vollkommen vergessen, als wir sie „entdeckten“. Als das Buch The Birth of Chinese Feminism erschien, wurden wir oft gefragt, was war ihr Einfluss? Wir sagten: „Sie hatte zu ihrer Zeit keinen Einfluss. Aber wir hoffen, dass sie heute Einfluss hat, indem wir sie wieder bekannt machen.“ Durch unsere Einführung spricht sie bestimmte Themen an, und zumindest in akademischen Kreisen begannen die Leute, ihr Aufmerksamkeit zu schenken und zu verstehen, welch bemerkenswerte Einsichten sie in das Leben in China und weltweit hatte.
Wenden wir uns einer späteren Zeit zu. Mao Zedong sagte bekanntlich, dass „Frauen den halben Himmel tragen“. Wie verlief die „Befreiung der Frau“ unter Mao, und wie sehen Sie das?
In den späten 1910er und frühen 1920er Jahren erinnerte Maos Analyse von „Miss Zhaos Selbstmord“ [berühmter Fall einer Frau, die Selbstmord beging, um einer arrangierten Ehe zu entkommen] ein wenig an He-Yins Analyse. Mao sagte in einem seiner Kommentare zu „Miss Zhaos Selbstmord“, dass arrangierte Ehen eine Form der täglichen Vergewaltigung darstellten. Für ihn war ein umfassendes Verständnis des Feminismus zu diesem Zeitpunkt in die Kleinigkeiten des Alltags eingebettet. Wenn Frauen ihren Vergewaltigern nicht entkommen konnten, war keine Befreiung möglich.
Aber nachdem die Kommunistische Partei Chinas an die Macht kam, war das erste, was der Staat tat, das Ehegesetz [1950] zu erlassen. Dieses Ehegesetz ermöglichte es Frauen, sich von schlechten Ehen zu befreien. Aber gleichzeitig definierte es die Ehe in der Familie als den Grundbaustein des gesellschaftlichen Lebens. Und damit ist natürlich eine heterosexuelle, heteronormative Ehe gemeint, die Kinder hervorbringt und chinesische Arbeiter*innen produziert.
Und das ganze Gerede rund um „Befreiung“?
Es gab bestimmte Dinge, die die Partei unternahm und die den Frauen als Menschen zugutekamen, [aber] ich kann das kaum als Befreiung bezeichnen. Wenn die Menschheit immer noch unterjocht wird oder an Formen der Unterwerfung gebunden ist, können Frauen nur in dem sehr begrenzten Sinne in eben die gleichen Formen der Unfreiheit wie Männer befreit werden, sei es durch Lohnarbeit oder in welcher Form auch immer.
Haben Mao und die KPCh die Frauen in China befreit? In dem Maße, in dem sie eine bestimmte Art von Produktivkraft als menschliche Arbeitskraft in das entfesselten, was sie den Aufbau des Kommunismus nannten, haben sie das sicherlich getan. Haben Frauen Fortschritte gemacht in Bezug auf ihre individuelle Autonomie und die Möglichkeiten, die sich ihnen gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich eröffneten? Sicher, ich denke, das ist unbestreitbar.
War diese Form der Ermächtigung der Frauen also nur eine Art Nebenprodukt der Wirtschaftsreform, die die Erwerbsbeteiligung von Frauen erhöhen wollte?
In dem Maße, in dem es sowohl im Kapitalismus als auch im Sozialismus darum geht, die Arbeitskraft zu nutzen, um einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufbau zu erreichen, ja, natürlich. Damals befand sich China in einem feindlichen globalen Umfeld, und Investitionen aus anderen Ländern waren nicht verfügbar. Die chinesische Version des Wirtschaftsaufbaus erforderte, Überschüsse aus der Ausbeutung der eigenen Bevölkerung anzuhäufen. In diesem Sinne könnte man, wenn man es sehr beschränkt betrachten will, sagen, dass der Hintergedanke darin bestand, Frauen zum Arbeiten zu bringen – Klar – es ging ebenso darum, Männer zum Arbeiten zu bringen! (lacht) Man brauchte Menschen zum Arbeiten, denn die einzigen Ressourcen, über die China damals reichlich verfügte, waren Arbeitskräfte und ein großes Territorium. Und sie mobilisierten beides, um Überschüsse zu generieren.
„Wurden Frauen befreit? ‚Ja, weil sie außer Haus arbeiteten‘ oder ‚Nein, weil sie außer Haus arbeiteten‘.“
– Rebecca E. Karl
Aber ist unser materielles Leben von unserem emotionalen und kreativen Leben trennbar? Ich würde sagen, nein. Wozu auch immer wir mobilisiert werden, es wird Konsequenzen für unsere ideologischen und kreativen Fähigkeiten haben. Das war der Teil, den der Staat nicht kontrollieren konnte. Der wirtschaftliche Überschuss könnte vom Staat abgefangen werden, aber es gibt noch allerlei andere Dinge – den Überschuss des Lebens selbst.
Was hindert uns daran, diese anderen Überschüsse besser zu verstehen?
Wie Gail Hershatter in ihrem Werk Gender of Memory [2014] gezeigt hat, gibt es bestimmte Erzählkonventionen, wenn Menschen ihr Leben nacherzählen. So etwas wie „wir waren arm, dann wurden wir befreit, dann waren wir …“. Ich denke, wir müssen die Frage anders formulieren und außerhalb des vom Staat erbeuteten wirtschaftlichen Überschusses denken. Auf die ständige Frage, ob Frauen vom Staat befreit wurden, kann man nur antworten „ja, weil sie außer Haus arbeiteten“ oder „nein, weil sie außer Haus arbeiteten“.
Welchen Einfluss haben die Partei und der Staat heute auf den Feminismus in China?
Es gibt heute chinesische Feminist*innen, die argumentieren, dass Feminismus oder „Womanismus“ oder Frauenbefreiung von oben nach unten durch den Staat kam, was die Bildung einer stabilen und kritischen sozialen Bewegung für einen konsequenteren Feminismus verhindert hat. Ich neige dazu, mit dieser Idee zu sympathisieren. Auf der anderen Seite aber denke ich, dass ungleiche Beziehungen durch das Momentum des sozialen Lebens weiterhin effizient reproduziert werden, wenn der Staat unbeteiligt ist. Daher denke ich, es braucht den Staat. Aber wollen wir einen „Nanny-Staat“, der Frauen schützt, weil Frauen Opfer von etwas sind, oder wollen wir Gesetze, die Frauen stärken, weil Frauen autonome Menschen sind?
„Wollen wir einen ‚Nanny-Staat‘, der Frauen schützt, weil Frauen Opfer von etwas sind, oder wollen wir Gesetze, die Frauen stärken, weil Frauen autonome Menschen sind?“
– Rebecca E. Karl
Es gibt Feminist*innen, die in ihrer Kritik an kapitalistischen Formen viel radikaler sind und die glauben, dass es ohne Kapitalismuskritik gar keinen Feminismus geben kann. Es gibt liberale Feminist*innen, die glauben, dass alles, was man braucht, mehr Frauen am Arbeitsplatz sind, wirtschaftlich autonomere Frauen, vielleicht ein bisschen mehr politische Repräsentation oder Gesetze, die Frauen schützen. Das würde dazu beitragen, den Status quo aufrechtzuerhalten, aber auf eine etwas „frauenhaftere“ Art und Weise. Aber noch einmal, die Fragen sind riesig und sie werden momentan diskutiert. Ich denke, in China gibt es keine guten Antworten, aber aktuell gibt es praktisch nirgendwo gute Antworten auf diese Fragen.
Die Hürden in China für eine wirklich standhafte feministische Bewegung sind riesig. Die Zensurmaßnahmen sind immens. Die Abhängigkeit der Partei und des Staates von der Kontrolle über die Körper von Frauen als arbeitende Körper, als gebärende Körper, als kreative Körper ist enorm. Ebenso enorm ist die Panik über feministischen Aktivismus – vom Staat und von bestimmten gesellschaftlichen Sektoren in China. Das soll nicht heißen, dass es nicht viele feministische Initiativen und viele Feminist*innen in China gibt – aber sie stoßen auf heftigen Gegenwind.
29.12.2021