Von Michael Prammer
Es herrscht reges Treiben in der Haupthalle des Sensoji in Asakusa, des ältesten buddhistischen Tempels Tokyos. Gerade findet eine religiöse Zeremonie statt, die von andächtigen Gläubigen wie auch Touristen beobachtet wird. Doch auch versteckt wird die Zeremonie beobachtet, denn der gesamte Raum wird von insgesamt neun Videokameras gefilmt, die eine nahtlose Überwachung garantieren.
Eine Szene wie diese gehört in Japan mittlerweile zum Alltag. Seit Jahren werden an öffentlichen Orten verstärkt Videokameras installiert. Besonders in den Bahnhöfen Tokyos ist diese Tatsache deutlich erkennbar. Niemals fehlt der warnende Hinweis: „Überwachungskamera in Betrieb“. Vielerorts sind Warnschilder sowohl in Japanisch als auch in Englisch gehalten. Die Idee der totalen Überwachung, die bereits von George Orwell in seinem Roman „1984“ thematisiert wurde, ist längst Realität geworden. Die „Stärkung der öffentlichen Sicherheit“ soll in Form einer Prävention von Verbrechen durch Überwachung erfolgen. Dies kann nur dann problemlos funktionieren, wenn die Überwachung lückenlos ist. Der Bürger muss sich ihrer bewusst sein und Angst vor ihr haben. Deshalb ist es nötig, die Angst der Bürger aufrecht zu erhalten.
Eine weitere Bewusstmachung der allgegenwärtigen Überwachung wird unter anderem vom japanischen Fernsehen übernommen. In vielen Sendungen über den Alltag der japanischen Polizei wird explizit darauf hingewiesen, dass Videoaufnahmen als Beweismittel vor Gericht durchaus genügen. So sind die Polizeibeamten in einer Episode auch nicht weiter frustriert, als ihnen zwei jugendliche Vandalen auf ihrem Motorroller nach einer längeren Verfolgungsjagd entkommen: „Die finden wir schon, keine Angst!“ verkündet der ältere Kollege mit einem freundlichen Lächeln.
Die Freundlichkeit dieses Lächelns spiegelt den ganz normalen Wahnsinn des Konzepts der totalen Überwachung wieder, welches in Japan zu einer unantastbaren Doktrin stilisiert wird. So verwundert es nicht, dass an vielen Orten bereits Privatpersonen damit begonnen haben, ihre Geschäfte und Lokale mit Videokameras zu überwachen; inklusive zweisprachiger Warnschilder. Ein kritisches Hinterfragen des staatlichen Eingriffs in die Privatsphäre bleibt aus. Solange das Gefühl der Sicherheit besteht, ist die Überwachung ein gesellschaftlich akzeptiertes Mittel zum Zweck und die Kamera ein beliebtes Hilfsmittel.
Aus Gründen der „öffentlichen Sicherheit“ wird die Überwachung immer weiter verstärkt und zu einem positiven Konzept geformt, welches das Bewusstsein der Bürger zu verändern scheint. Die Gläubigen des Sensoji sind dabei nur ein kleiner Teil der Opfer dieser neuen Ideologie der totalen Überwachung.