Von Susanne Pessentheiner
Unter der Woche kann man sich leicht nach Ni-chome, Shinjuku verirren, ohne zu merken, dass man sich im größten Schwulenviertel der Welt befindet. Im Gegensatz zu den schrillen Leuchtreklamen der Hetero-Vergnügungsmeile Kabuki-cho weisen hier nur kleine, eher unauffällige Schilder den Weg zu den Bars und Clubs – viele davon übereinander in den kleinen Hochhäusern, die das Stadtbild dieses Viertels prägen.
So habe ich mich eines freitagnachts zusammen mit Freunden aufgemacht, Ni-chome zu erkunden. Die zwei Japaner in unserer Runde waren von der Idee nicht so begeistert und ließen im Vorfeld einige unfreiwillig homophobe Kommentare fallen. Während der eine unvorsichtig mit dem etwas umstrittenen Wort okama (in etwa „Schwuchtel“ oder „Tunte“) um sich warf, fürchtete der andere um seinen Hintern. Diese Ängste waren natürlich unbegründet, und wir wurden mit einer offenen, freundlichen Atmosphäre belohnt.
In gleicher Weise offen und freundlich ist das Klima gegenüber Homosexualität in Japan keineswegs, wie schon die unbeholfenen Aussagen meiner Begleiter zeigen. Zwar wurden homosexuelle Handlungen nie als sündhaft betrachtet, jedoch führte der westliche Einfluss seit der Meiji-Periode zu einer verstärkten Ablehnung. Heutzutage wird Homosexualität toleriert, solange sie unsichtbar bleibt und man seinen Pflichten als guter Bürger nachkommt und eine Familie gründet. Der so genannte „gay lifestyle“ wird in Japan akzeptiert, wenn es sich um Künstler handelt, die fast wie eine Kuriosität von einer Fernsehshow zur Nächsten tingeln. Da diese Personen in den Bereich des asobi („Spiel“ oder „Unterhaltung“) gehören, besteht keine Notwendigkeit sie ernst zu nehmen und sie stellen somit keine richtige Bedrohung für althergebrachte Denkmuster dar. Jedoch sieht auch ein großer Teil der Homosexuellen wenig Handlungsbedarf, denn solange sie sich bedeckt halten, werden sie nicht behelligt.
In diesem Klima aus Ignoranz und Gleichgültigkeit hat sich bezüglich der Rechte von Homosexuellen sehr wenig getan. Weder gibt es die Möglichkeit einer Ehe noch die einer eingetragenen Partnerschaft. Um eine rechtliche Absicherung für seinen Partner zu erlangen bleiben nur die Erwachsenenadoption oder notariell beglaubigte Verträge. Beides keine optimalen Optionen – eine Adoption kann nicht mehr rückgängig gemacht werden und bei Verträgen muss man selbst alle Eventualitäten beachten. Daher werden diese Möglichkeiten selten in Anspruch genommen. Da sich die großen japanischen Parteien nicht wirklich für die Rechte Homosexueller interessieren, wird sich diesbezüglich nicht sobald etwas ändern.
Aber es liegt nicht allein an den Politikern. Auch die Lesben- und Schwulenbewegung ist in Japan relativ unterentwickelt. Es gibt zwar Gruppen wie OCCUR, die sich seit 1986 für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzen, jedoch finden sich innerhalb der Szene auch die stärksten Kritiker. Viele halten den Aktivismus für zu aggressiv und meinen, er würde dem Ansehen Homosexueller eher schaden als nützen, indem er Ressentiments in der Gesellschaft schüre und so Diskriminierung verstärke.
Verwunderlich ist das nicht, denn auch sie haben das Ideal der Anpassung verinnerlicht und alles was zu laut und zu schrill ist, widerspricht dem. Man bleibt lieber im Verborgenen, oder in einem sicheren Hafen wie Ni-chome. Hier ist man weitgehend unter sich und kann ein Stückchen Freiheit genießen.
Ein Stückchen Freiheit, das ich angesichts meiner etwas skeptischen Begleitung nicht voll auskosten konnte. Da sich deren Spaß in Grenzen hielt, beschlossen wir weiter zu ziehen. Es war jedoch sicher nicht mein letzter Besuch in Ni-chome und ich freue mich auf das nächste Mal – dann aber lieber mit einer Begleitung, die sich von der sexuellen Vielfalt Japans nicht einschüchtern lässt.