Bebt Tokyo, bebt ganz Japan

Kommentar
von Christian Schwarz

Fährt man dieser Tage aus den Erdbebengebieten im Nordosten Japans nach Tokyo, sind die Straßen wie leer gefegt. Auch Wochen nach dem großem Erdbeben mit einer Stärke von 9,0 auf der Richterskala herrscht in den betroffenen Gebieten der Ausnahmezustand.

Japan wird sich mit den Folgen des Bebens und des Tsunamis noch Jahre befassen müssen. Nach aktuellen Berechnungen belaufen sich die Schäden auf 25 bis 35 Billionen Yen (zirka 210 bis 290 Milliarden Euro) – keine Naturkatastrophe hat bisher eine solch hohe Schadenssumme verursacht.

Dabei hätte es noch schlimmer kommen können: Eine Katastrophe dieser Größenordnung in der Megastadt Tokyo wäre ein vernichtender Schlag für den pazifischen Inselstaat. Denn: Tokyo ist das Zentrum Japans, in dem sich ein Großteil des wirtschaftlichen und politischen Lebens abspielt. Bebt dort die Erde, hat das für Japan nicht absehbare Konsequenzen. Tokyo ist knapp 350 Kilometer vom Epizentrum des Tohoku-Erdbebens entfernt. Obwohl nur Ausläufer die japanische Hauptstadt erreichten, bebte es dort äußerst heftig; der Tsunami erreichte die Region in nur sehr schwacher Form, Schäden und Opfer waren gering.

Schon seit Jahren warnen Seismologinnen, ein großes Kanto-Erdbeben – die Region in der Japans Hauptstadt liegt – stünde wieder bevor. Im Meer südlich von Tokyo laufen drei tektonische Platten zusammen. Und das Beben vom 11. März hat die Spannungen am Meeresgrund nochmals erhöht. Es könnte heute passieren oder Jahre auf sich warten lassen. Aber eines ist sicher: Es wird groß werden.

Igarashi Takayoshi, ein Berater des Kabinetts von Premierminister Kan Naoto (Demokratische Partei Japans, DPJ), hat erkannt, dass es bereits zu spät sein könnte. Er verlangt eine umgehende Dezentralisierung Japans, ein massives Erdbeben würde „das ganze Land auslöschen, da sich hier alles befindet“, sagte er gegenüber Bloomberg. Im Großraum Tokyo leben 35 Millionen Menschen und erwirtschaften dort ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes Japans. Womit die Wirtschaftsleistung Tokyos die von ganz Indien übertrifft. Die Angst vor einem großen Kanto-Erdbeben liefert jedoch nur ein weiteres Argument für eine Dezentralisierung.

Bereits zuvor gab es Argumente, warum der „Wasserkopf “ Tokyo ein Problem darstellt. Die obersten Entscheidungsträgerinnen Japans sitzen in der Hauptstadt, Japans Bürokratie ist dafür bekannt, ineffizient, langsam und teuer zu sein. Die Politik hat das Problem erkannt: bereits in den 1990er-Jahren suchte man Lösungsansätze, um die Regionen zu stärken. Unter Premierminister Koizumi Junichiro (Liberaldemorkatische Partei, LDP) und seiner neoliberalen Agenda wurden die Pläne erstmals konkretisiert – aber nie durchgeführt.

Die Angst vor einem drohenden Erdbeben könnte die Tendenz in Richtung Regionalisierung von Politik und Wirtschaft beschleunigen, und Japans Politikerinnen empfänglicher für die Dringlichkeit dieser Frage machen. Tokyo wird immer eine wichtige Rolle spielen, wodurch ein Kanto-Erdbeben nach wie vor schreckliche Konsequenzen hätte, aus menschlicher und wirtschaftlicher Sicht. Aber nur durch eine Dezentralisierung können die Auswirkungen minimiert werden.