Von Stefan Fädler
„Die ‚Blumen von Edo‘ blühen wieder reichlich“. Ein romantisches Bild taucht vor dem geistigen Auge der Leserin auf, wenn sie in Geschichtswerken über die Entwicklung Edos um 1700 solche Sätze liest. Aber der Schein trügt: Die „Blumen von Edo“ waren nach dem Verständnis der Japanerinnen zu jener Zeit Brandstiftung und Raubüberfall.
Als Tokugawa Ieyasu, der zukünftige Herrscher über Japan, in Edo ankam, befanden sich dort lediglich eine Burgruine sowie ein etwas verschlafenes Fischernest. Wer hätte ahnen können, dass an dieser Stelle später das heutige Tokyo erbaut werden würde? Ieyasu tauschte die Provinzen seiner Vorfahrinnen gegen dieses als abgelegen und hinterwäldlerisch verschriene Land. Vom Zentrum der Zivilisation, dem Kaiserhof in Kyoto, war Edo zwar weit entfernt, doch für den Reisanbau war die Gegend immerhin eine der besten des Landes. Vorerst entstand im Jahr 1590 nur ein befestigtes Lager. Nachdem Ieyasu 1600 seine letzten Widersacher bezwungen hatte, begann er fünf Jahre später mit dem Bau einer Burg, die das Herzstück für die Stadtgründung sein sollte. Nun wurden die Gründe für den Provinzentausch offensichtlich. Hier im Hinterland plante Ieyasu eine neue Hauptstadt ganz nach seinen Vorstellungen zu kreieren.
Sein Enkel Iemitsu führte 1635 jenes Gesetz ein, das Edo groß und reich machen sollte. Er verpflichtete alle Fürsten des Landes, die Hälfte des Jahres mit großem Gefolge in Edo zu verbringen. Die Stadt schwoll mit Adeligen, deren Dienerinnen sowie Arbeitssuchenden an. Schon 1721 zählte Edo zirka eine Million Einwohnerinnen und war somit die größte Stadt der Welt. Die Tokugawa-Familie stand vor einer noch nie da gewesenen Aufgabe. Mit einer Stadt dieser Größe hatte man keine Erfahrung. Die Stadtverwaltung entstand quasi am Reißbrett, nicht wie gewöhnlich durch Versuch und Irrtum. Hinzu kam, dass Edo ein Prestigeprojekt war: gleichzeitig Vorbild und Standard, an dem die Fähigkeiten der Tokugawa gemessen wurden. Daher entsprach die Verwaltung der Stadt aus Sicht der Regierung zu Beginn der idealen Gesellschaftsstruktur: einem hierarchischen Kastenwesen, in dem Angehörige desselben Standes ihresgleichen verwalteten. Diese Aufteilung reflektierte auch die geographische Realität Edos: Angehörige des selben Standes wohnten in den gleichen Vierteln. Zu Beginn gab es keine Behörde, die für die gesamte Stadt zuständig war.
Edo versank im Rechts-Chaos. So konnten zum Beispiel Fürsten auf eigenem Grund nach Lust und Laune Recht sprechen. 1631 wurde das Amt des Stadtmagistraten etabliert, der zumindest in rechtlichen Angelegenheiten Ordnung in das vorhandene Chaos bringen sollte. Im Laufe der Jahre wurden diesem Amt mehr und mehr Kompetenzen eingeräumt, um eine sinnvolle Verbrechensbekämpfung zu ermöglichen, doch vorerst krankte diese Institution an mehreren gravierenden Mängeln. Lange blieb unklar, welcher Bereich als „Edo-Stadt“ und welcher als „Edo-Umland“ zählte. Es herrschte Verwirrung, welche Fälle der Stadtmagistrat und welche der Landmagistrat zu bearbeiten hatten. Noch schwerer wog allerdings, dass die Stadtmagistrate zu Beginn nur in den Bezirken der Händlerinnen und Handwerkerinnen Verhaftungen vornehmen durften. Um Täterinnen in den Samurai-Bezirken (immerhin 80 Prozent der Stadt) verhaften zu können, mussten die Magistrate erst einen Auslieferungsantrag bei der Regierung stellen.