von Katharina Menz
Der Künstler Wang Lei zerschnippelt 365 Ausgaben der chinesischen Tageszeitung People’s Daily (Renmin Ribao) und webt sie zu einer weitläufigen, unästhetischen Rolle. Sein Werk kritisiert unverkennbar schonungslos die Propaganda und Politik der Kommunistischen Partei Chinas.
Eine imposante Menge Papier türmt sich in der Ausstellung „Chinese Whispers“ im Museum für Angewandte Kunst in Wien (2019) und formt vor den Augen der Betrachter*innen ein vier Meter langes Kunstwerk. Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass es sich um Zeitungspapier handelt. Ein Blick auf den Titel des Werks „People’s Daily“ verrät, um welche Zeitung es sich handelt.
Das Sprachrohr der Partei
Die chinesische Tageszeitung People’s Daily, oder im Original Renmin Ribao, ist mit einer Auflage von etwa 2,5 Millionen Exemplaren eine der auflagenstärksten Zeitungen der Volksrepublik. Die erste Auflage der Renmin Ribao erschien am 15. Juni 1948 in Pingshan, in der Provinz Hebei, als regionales Parteiblatt der Kommunistischen Partei Chinas. Das Büro der Zeitung zog im März 1949 nach Peking um, wo sie schließlich zum offiziellen Sprachrohr der Kommunistischen Partei wurde. Als ein Organ der Partei enthält sie jene Informationen, die die Partei der Öffentlichkeit zugedacht hat. Der zeitgenössische Künstler Wang Lei (王雷) zweckentfremdet die Stimme der Partei und verschafft ihr eine neue Erscheinungsform.
Wang Lei
Wang Lei, geboren 1980 in Handan in der chinesischen Provinz Henan, studierte zunächst an der Henan Academy of Fine Arts Ölmalerei und anschließend experimentelle Kunst an der Central Academy of Fine Arts. Seine Kunst wurde in zahlreichen Ausstellungen präsentiert, unter anderem in Peking, Shanghai, Wien und New York. Kritiker*innen bewundern sein Auge für intime Details und Feinheiten. Er ist bekannt dafür, ein Kunstwerk zum Leben erwecken zu können und für sein Talent, mit unterschiedlichstem Publikum zu kommunizieren.
Ein mühevoller Schaffensprozess
Für sein Kunstwerk „People’s Daily“ sammelt Wang Lei die Ausgaben der Zeitung des gesamten Jahres 2013, zerschnippelt diese in kleine Streifen, spinnt sie zu Fäden und webt sie anschließend zu einem riesigen Textilobjekt. Die Manipulation dieses zäh strukturierten Papiers in ein komplexes Gewebe hebt die Probleme hervor, die mit der Beziehung zwischen den Wahrnehmungen der Betrachter*innen und der Realität verbunden sind.
In einem Interview berichtet Wang Lei, dass der Schöpfungsprozess hart und einsam war. Was ihn jedoch auf dem langen Weg der Einsamkeit unterstütze, war das große Wort „durchhalten“ an der weißen Wand seines Studios. Das Erscheinungsbild von „People’s Daily“ ist farblos und grau und entspricht nicht dem allgemeinen Verständnis von Schönheit. Zunächst weckt es daher Verwirrung und Emotionslosigkeit, bietet jedoch bei nochmaliger Überlegung viel Interpretationsspielraum.
Des Inhalts und Zwecks entleert
Wang Lei zeigt seine Kritik an den chinesischen Medien als staatliche Organe, indem er People’s Daily zerschneidet und als Material verwendet. Die Zeitung wird somit ihres Inhalts entleert – er ist nicht wertvoll, nicht lesenswert, sondern dient lediglich als Material. Auch wird die Zeitung ihrer Funktion zu informieren entzogen, ihre Existenzgrundlage wird in Wang Leis Werk obsolet. Die Abwesenheit von Farbe vermittelt das Fehlen von Abwechslung und Neuem, als stecke in der Zeitung keine Substanz, kein Inhalt und kein Mehrwert. Was bleibt ist, zumindest auf den ersten Blick, ein grauer Stapel an Eintönigkeit.
Eine starke Botschaft
Das Zeitungspapier eines gesamten Jahres zu verwenden, sendet eine starke Botschaft und bringt den Aspekt der Zeit ins Spiel. Der Umfang des Werks und das Ausrollen deuten auf die Reichweite der People’s Daily hin, denn sie ist für die Menschen in China ein allgegenwärtiges und einflussreiches Medium. Aber nicht nur das große Ganze, sondern auch so manche Details erlauben Einblicke in die Intentionen des Künstlers. Bei genauerer Betrachtung des Werkes kann man etwa die Namen bekannter Politiker*innen in den Schnipseln erkennen.
Kunstvolle Regimekritik
Im Jahr 2012 kam der amtierende Parteichef Xi Jinping an die Macht. Auch sein Name ist in zerschnippelter Form Teil des Kunstwerks. Wang Lei übt demnach auch indirekt Kritik an der von Xi geführten Partei und Politik aus. Außerdem wird die Zensur der chinesischen Medien sowie die Propaganda und Ideologie, wie sie in der People’s Daily täglich veröffentlicht wird, verurteilt.
Eine Besonderheit an „People’s Daily“ ist, dass das Kunstwerk bereits in seinem Titel zugleich Material und Kritik vereint. Die Ästhetik, Tradition und Schönheitsideale der Kunst wirft Wang Lei in einem langwierigen Schaffensprozess über Bord, und übrig bleibt nackte, schonungslose Kritik. Diese Kritik dringt unmittelbar zu den Betrachter*innen durch und konfrontiert sie auf unsanfte und unästhetische Weise mit der Politik der Kommunistischen Partei Chinas. Partei, Politik und Propaganda werden an den Pranger gestellt und Inhalt, Zweck und Erscheinungsbild werden zerstört.