Die soziale Bedeutung von Immobilien in China

Guomao at Dusk Foto: Guomao at Dusk von Jens Schott Knudsen, lizenziert unter CC BY-NC 2.0

von Sarah Levihn

Der Kernzweck des Wohnens ist der Schutz der Bewohner*innen vor Witterung, Tieren und anderen gefährlichen Situationen. Daher gehört der Wohnraum zu den elementarsten Bedürfnissen des Menschen. Eine soziale Bedeutung eines Wohnraumbesitzes ist in vielen Kulturen verankert, dies gilt insbesondere für China.

Das chinesische Neujahr ist traditionell ein Fest, das mit der Familie in der Heimat gefeiert wird. Das führt dazu, dass jedes Jahr Millionen von Chines*innen die Großstädte verlassen und zurück in ihre Heimat aufs Land fahren. Dieses Ereignis gleicht einer Völkerwanderung und offenbart den enormen Zustrom an Menschen in die Großstädte in den letzten Jahrzehnten.

Die Urbanisierung ist jedoch nicht typisch chinesisch, sondern ein globales Phänomen des 21. Jahrhunderts. Der Zustrom in die Städte ist noch nicht zu Ende. Nach Angaben der Vereinten Nationen werden bis zum Jahr 2050 rund 68 % der Menschen in Städten leben. So erklärte ein Direktor der Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN DESA), dass die Verwaltung städtischer Gebiete zu einer der wichtigsten Entwicklungsherausforderungen des 21. Jahrhunderts werden wird.

Häuser sind zum Leben da

Seit Reform und Öffnung führte der Zustrom von Menschen zum Entstehen der chinesischen Megastädte. Es entstanden Landschaften von Wohnhochhäusern, großen Einkaufszentren und Wolkenkratzern. Der Immobiliensektor spielt eine wichtige Rolle für die Wirtschaft und den internationalen Handel eines jeden Landes. In China stieg der Anteil des Immobiliensektors und des Baugewerbes am BIP auf zuletzt 7 % und 7,2 % im Jahr 2019. Man schätzt, dass der Immobiliensektor inklusive nachgelagerten Sektoren in China eine Wirtschaftsleistung von 20 bis 30 % generiert.

Der chinesische Immobilienmarkt hat jedoch auch seine Eigenheiten. Die chinesische Regierung besitzt das Eigentumsrecht am gesamten Land. Einzelpersonen und Unternehmen können ein Landrecht für Wohnzwecke erwerben, das 70 Jahre gültig ist. Nach Ablauf dieser Zeit können sie eine Verlängerung der Nutzungsrechte beantragen.

Das begrenzte Nutzungsrecht mindert jedoch nicht die Begehrlichkeit von Immobilien. Sie gelten in China als wichtige Anlageklasse. Da immer mehr Menschen in Städte ziehen, steigt die Nachfrage an Immobilien und damit die Immobilienpreise. Das ist jedoch nicht nur durch die hohe Urbanisierungsrate begründbar. In vielen „Geisterstädten“ wurden Immobilien gebaut und verkauft, die nun leer stehen.

Da es in China an Investitionsmöglichkeiten mangelt, werden Immobilien gerne als Anlageklasse genutzt. Es wird geschätzt, dass Immobilien über 70 % des Privatvermögens in China ausmachen. Wie bei vielen Anlageklassen bringt der Preisanstieg Menschen dazu, auf einen weiteren ansteigenden Preis zu spekulieren und mehrere Wohnungen zu kaufen, was wiederum zu dem Preisanstieg beiträgt.

Die steigenden Immobilienpreise und daraus resultierende steigende Mietpreise sind nicht nur ein chinesisches Phänomen. In vielen Städten auf der ganzen Welt steigen die Immobilien- und Mietpreise, was mancherorts zu Protesten führt. Staatspräsident Xi Jinping betonte die Bedeutung und den Wert von Wohnraum für die Menschen. Er erklärte: „Häuser sind zum Leben da und nicht zum Spekulieren“.

Eigentum als gesellschaftliches Phänomen

Der Besitz einer Wohnung ist in China ein wichtiges Gut. 2018 hatte das Land eine Wohneigentumsquote von 89 %. Damit gehörte China 2014 zu den zehn Ländern mit den meisten Wohnungseigentümer*innen.

Der Zeitgeist verbindet Wohneigentum mit mehreren sozialen Faktoren. Deshalb spielt der Besitz von Immobilien in der chinesischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Besonders wichtig ist auch die Wohnsitzregistrierung (Hùkǒu) in einer Stadt, da staatliche Leistungen wie öffentliche Sozialleistungen, medizinische Versorgung, Renten und Schulzulassungen daran gebunden sind. Wie in vielen Ländern wird auch in China ein Eigenheim als eine Art „Sicherheit“ angesehen. Daher ist es nicht überraschend, dass der Besitz einer Wohnung auch Auswirkung auf die Heiratsfähigkeit eines Mannes hat. Traditionell kann ein Mann erst heiraten, wenn er einen Wohnraum besitzt und somit der neu gegründeten Familie „Sicherheit“ bieten kann. Zudem gilt der Kauf einer Immobilie als ein gutes und sicheres Investment.

Doch Stadtwohnung ist nicht gleich Stadtwohnung. Chinesische Städte ordnen sich je nach Bevölkerungszahl, wirtschaftlicher Stärke und politischer Verwaltung in vier Gruppen (Tiers). Tier-1-Städte sind Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen. Hier sind Wohnungen besonders begehrt, sodass Peking 2011 neue Regelungen des Immobilienerwerbs festsetzte. Pekinger*innen, die bereits zwei oder mehr Wohnungen besitzen, dürfen nun keine weiteren mehr kaufen. Auch dürfen Familien, die keinen Wohnsitz in Peking haben und nicht mindestens fünf durchgehende Jahre in Peking Sozialversicherung oder Einkommenssteuer gezahlt haben, keine Wohnung in der Stadt erwerben.

Zu dieser Beschränkung kommt in der Regel eine sehr hohe Anzahlung. 2017 musste man in Peking für den Kauf der Erstwohnung 30 % vorstrecken, während zur selben Zeit die Anzahlung für den Kauf einer Zweitwohnung von 50 auf 60 % anstieg. Da die Immobilienpreise sehr hoch sind, beteiligt sich am Immobilienkauf meist die ganze Familie.

Trotz dieser Schwierigkeiten, eine Immobilie zu erwerben, stieg in China in den letzten Jahren der Anteil von Besitzer*innen mehrerer Wohnungen. Gleichzeitig schrumpfte der Teil der Menschen mit nur einem Eigenheim von 70 % im Jahr 2008 auf 46 % im Jahr 2017. 2008 besaßen rund 27 % der Wohnungsbesitzer*innen zwei Wohnungen. Diese Zahl stieg bis 2017 auf 39 %. Die Zahl der Menschen mit drei Wohnungen stieg von 3 % im Jahr 2008 auf 15 % im Jahr 2017. Somit besaßen 2017 mehr als die Hälfte der Wohnungseigentümer*innen in China mehr als eine Wohnung.

Auch erwerben immer mehr chinesische Frauen Immobilien. Laut einem Bericht über den Immobilienbesitz von Frauen in zwölf chinesischen Großstädten, ist ihr Anteil von 5 %  im Jahr 2016 auf 46 % im Jahr 2018 gestiegen. Zudem stammen Hausbesitzerinnen aus wohlhabenden Familien und sind gut ausgebildet, oft nicht verheiratet und karrierebestimmt. Eine weitere Rolle könnte die Änderung des Eherechts im Jahr 2011 spielen. Um bei einer Scheidung einen Anteil der Immobilie (die traditionell vor der Hochzeit von dem Bräutigam und dessen Familie gekauft wurde) zu erhalten, muss nun die Ehegattin einen Nachweis vorlegen, der belegt, dass sie sich ebenfalls an der Immobilie finanziell beteiligt hatte.

Wirtschaftlicher Optimismus trotz Pandemie und Evergrande

Obwohl in vielen chinesischen Städten die Immobilienpreise im Vergleich zum Einkommen sehr hoch sind, werden Immobilien weiterhin gekauft. Interessent*innen gehen kreative Wege, um einschränkende Regelungen zu umgehen. Manche Paare ließen sich auf dem Papier scheiden, um im Namen einer der Partner*innen eine weitere Immobilie zu kaufen. Es ist daher zu erwarten, dass die jährliche Völkerwanderung zum chinesischen Neujahrsfest weiter wächst, jedenfalls wenn die gegenwärtige Pandemie vorbei ist.

Der soziale Aspekt eines Eigenheims und die Möglichkeit zu investieren, überwiegen die Kostspieligkeit einer Immobilie. Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre könnte ebenfalls ein Faktor für die optimistische Zukunftserwartung sein. Menschen erwarten, dass dies weiter so geht, sie weiter Gehaltserhöhungen bekommen und so den anfangs sehr hohen Immobilienpreis zahlen können. Dass die Begehrlichkeit von Immobilien durch die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie oder der Zahlungsunfähigkeit von Evergrande dauerhaft getrübt ist, ist nicht zu erwarten. Immobilien sind in China nach wie vor nicht nur eine Möglichkeit zu investieren, sondern haben auch eine wichtige soziale Funktion.