von Sarah Laimer
Geister der Vergangenheit: Das Entfernen einer Statue von Chiang Kai-shek an der Nationalen Sun Yat-sen Universität sorgte 2018 für Aufsehen und illustriert die Schwierigkeiten der taiwanesischen Gesellschaft im Umgang mit ihrer Geschichte.
Nach dem Wechsel eines politischen Regimes stellt sich unweigerlich die Frage, wie die neue Regierung mit der Vergangenheit umgeht. Inspiriert durch den Vortrag der taiwanesischen Professorin Da-chi Liao in Wien besuchte ich im Sommer 2019 die Nationale Sun Yat-sen Universität (NSYSU) in Kaohsiung. Als ich im Keller der Universität die aufbewahrten Überreste einer Statue Chiang Kai-sheks besichtigte, wurde mir bewusst, wie aktuell und präsent die Vergangenheitsbewältigung im heutigen Taiwan noch immer ist.
Taiwans ehemaliger Präsident Chiang Kai-shek herrschte nach seinem Rückzug aus Festlandchina im Jahr 1949 beinahe drei Jahrzehnte als Diktator auf der Insel. Trotz Chiangs autoritären Herrschaftsstils ist in der heutigen demokratischen Republik China auf Taiwan sein Vermächtnis weiterhin allgegenwärtig. Das zeigt auch eine der meistbesuchten Touristenattraktionen der taiwanesischen Hauptstadt Taipei: In der Nationalen Gedächtnishalle für den Generalissimus Chiang findet tagtäglich der Wachwechsel in Ehrerbietung an den einstigen Präsidenten statt. Dieses riesige Gebäude im Zentrum Taipeis ist trotz der demokratischen Entwicklung Taiwans in den letzten Jahrzehnten erhalten geblieben.
Die Omnipräsenz dieser autoritären Vergangenheit durch architektonische Überreste, wie Statuen, Gedenkhallen und Monumente, trägt ein sehr hohes Konfliktpotential in sich. Seit Jahren werden Chiangs physische Manifestationen in regelmäßigen Abständen beschädigt, zerstört, mit Farbe beschmiert oder auf andere Art und Weise gegen sie protestiert.
Taiwans blutige Vergangenheit
Am 28. Februar 1947 schlugen Chiangs Militäreinheiten einen Aufstand der taiwanesischen Bevölkerung blutig nieder und töteten laut Schätzungen zwischen 5.000 und 28.000 Zivilistinnen. Dieser Vorfall ging in die Geschichte als „228-Massaker“ ein. Jedes Jahr am 28. Februar, dem Tag, an dem die taiwanesische Bevölkerung der Opfer des 228-Massakers gedenkt, nimmt der Vandalismus an Chiang Kai-shek-Statuen bedeutend zu.
Trotz dieser blutigen Vergangenheit wird Chiang bis heute in der Öffentlichkeit sehr unterschiedlich bewertet, weshalb die „Statuenproblematik“ ein hoch emotionales Thema ist. Ein Teil der Gesellschaft sowie die einstige Partei von Chiang – die Nationalistische Volkspartei (KMT) – betonen weiterhin auch die positiven Errungenschaften des Diktators: sein Widerstandskrieg gegen die japanische Invasion, die Wirtschaftsentwicklung Taiwans, und diverse Bildungsreformen. Gleichzeitig leugnet dieses Meinungslager meist nicht Chiangs Involvierung in dramatische Menschenrechtsverletzungen während der Kriegsrechtsperiode. Ein anderer Teil der Bevölkerung und die Oppositionspartei der Demokraten (DPP) verurteilen hingegen das Erbe des einstigen Präsidenten. Diese zwei kontrastierenden Standpunkte spiegeln sich auch in der Handhabung der Relikte in der Öffentlichkeit wider.
Ein demokratischer Zugang zum Dilemma
Die Nationale Sun Yat-sen Universität in Kaohsiung sah sich mit solch einer Problematik konfrontiert. Im Zentrum des Campus standen hier eine Statue Chiangs und eine Staute des „Vaters der Nation“ Sun Yat-sen nebeneinander. Die Statue Chiangs sorgte wiederholt für Proteste und Unruhen unter den Studierenden.
Die Universität hielt daher 2018 ein Referendum ab und überließ die Entscheidung über das zukünftige Schicksal beider Statuen den Studierenden und dem Universitätspersonal. Bei geringer Wahlbeteiligung entschied sich die knappe Mehrheit dafür, Chiangs Statue vom Campus zu entfernen, während die Staute von Sun Yat-sen behalten werden sollte.
Beerdigung eines Diktators
Das Ergebnis des Referendums stellte die Universität nun vor ein neues Problem. Wie sollte mit der entfernten Statue weiter verfahren werden? Normalerweise kommt eine völlige Zerstörung dieser Skulpturen nicht in Frage, da ein hohes Maß an Respekt und Aberglaube mit diesen Darstellungen verbunden sind. Beispielsweise erlitt die einstige Bürgermeisterin Kaohsiungs und DPP-Politikerin Chen Chu im Jahr 2007 einen Schlaganfall. Die Stadtbewohnerinnen schrieben den Vorfall dem umstrittenen Abriss einer der größten Chiang Kai-shek-Statuen Taiwans aus der Kaohsiung Gedenkhalle im selben Jahr zu.
Eine Möglichkeit für die NSYSU Statue wäre daher gewesen, sie in den Cihu Memorial Sculpture Park in der Stadt Taoyuan zu verfrachten. Der Skulpturenpark liegt direkt an Chiangs Mausoleum und stellt nahezu 200 ausarrangierte Statuen und Büsten Chiangs aus, die aus ganz Taiwan zusammengetragen wurden.
Die Universität entschied sich jedoch nicht für eine Verlegung nach Cihu. Die Statue wurde stattdessen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abmontiert. Als die Studierenden am nächsten Tag am Campus eintrafen, war die Skulptur ohne weitere Erklärung verschwunden. Die Statue ist zwar nicht mehr an ihrem prominenten Ort neben Sun Yat-sen zu finden, dennoch wurde sie nicht völlig vom Universitätsgelände entfernt.
Stattdessen wird sie in einem hölzernen Sarg im Keller der Universität aufbewahrt. Die Studierenden der Universität waren zum Zeitpunkt meines Besuches nicht über diesen Umstand aufgeklärt worden. Laut Prof. Liao gab es bis dahin aber auch keine Anfragen der Studierenden zum Verbleiben oder dem Zustand der Statue.
Die Problematik umstrittener Monumente
Vandalismus, Proteste und Demonstrationen weltweit, die vermehrt auf Monumente, Statuen und Straßennamen zu Ehren von umstrittenen historischen Persönlichkeiten abzielen, zeigen eindeutig, dass es sich bei dieser Problematik um ein globales Phänomen handelt. Fast jede Nation hat mit der Aufarbeitung einer schwierigen Vergangenheit zu kämpfen. Dazu gehört auch, sich mit den architektonischen Relikten dieser Perioden auseinanderzusetzen.
Die NSYSU geht hierbei mit gutem Beispiel voran und zeigt, wie man mit Hilfe demokratischer Prozesse dieses komplexe Phänomen handhaben kann. Jedoch stellt selbst ein solcher Prozess die Entscheidungsträgerinnen vor ein neues Problem, nämlich, was anschließend mit diesen aussortierten und ungewollten Statuen passieren soll. Da Chiang Kai-shek von vielen Menschen weiterhin respektiert wird, ist es verständlich, dass Zuständige die besagten Statuen nicht einfach zerstören und somit Konflikte und gesellschaftliche Spaltung auslösen wollen. Die Statue in einen eigens dafür angefertigten Holzsarg zu platzieren, könnte jedoch Chiangs Gegnerinnen durchaus verärgern.
Die Darstellung eines ehemaligen Diktators, dem unzählige Menschenrechtsverletzungen zugeschrieben werden, auf diese Weise aufzubewahren ist definitiv umstritten, denn dadurch wird Chiang wieder ein hohes Maß an Respekt beigemessen. Im Falle der NSYSU handelt es sich daher um eine Art Kompromiss. Die Statue wurde zwar entfernt, die Studierenden konnten jedoch nicht mitentscheiden, was mit der Statue schlussendlich passiert und wurden auch nicht darüber informiert, wo die Statue nach der Entfernung untergebracht wurde.
Dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Zahlreiche öffentliche Einrichtungen kämpfen weiterhin mit der Handhabung der umstrittenen Reliquien. Die Komplexität dieser Problematik zeigt deutlich, wie präsent das Vermächtnis von Chiang Kai-shek im heutigen demokratischen Taiwan noch immer ist und wohl auch bleiben wird.