‘Night Market Theatre’: Taiwans Kulturdiplomatie

Foto: Joshua Sofaer. Night Market Theatre von Joshua Sofaer, kuratiert von Yoyo Kung und Juan Chin, produziert von Prototype Paradise, Zhiqiang Night Market, Hualien, Taiwan, 2014.

von Freda Fiala

Der prekäre politische Status von Taiwan erfordert besondere Strategien in den internationalen Beziehungen. Die Künste und kulturelle Initiativen spielen daher in der Diplomatie der Insel eine zentrale Rolle. Das „Night Market Theatre“ ist ein aktuelles Beispiel, die darstellenden Künste als Teil jener professionalisierten Außenpolitik zu verstehen.

An einer Bude dampft es und duftet nach Sesampaste, nebenan riecht es nach heißem Öl und mariniertem ‚Stinky-Tofu‘. Menschen in bunten T-Shirts schieben sich durch die Gänge, lachen und plaudern bis spät in die Nacht. An kleinen Plastiktischen wird Bier aus winzigen Gläsern getrunken, der Obststand leuchtet exotisch: die traditionellen Nachtmärkte in Taiwan sind ein großes Fest für die Sinne.

Foto: Joshua Sofaer. Night Market Theatre von Joshua Sofaer, kuratiert von Yoyo Kung und Juan Chin, produziert von Prototype Paradise, Zhiqiang Night Market, Hualien, Taiwan, 2014.
Foto: Joshua Sofaer

Um einen der Stände stehen Menschen dicht gedrängt. Sie beobachten gebannt, wie der Mann hinter dem Tresen mit einer Puppe spielt, die ein Räucherstäbchen in der Hand hält. Seine theatralen Gesten lassen an einen Magier denken, der gleich in Trance verfällt. Er drückt die Figur einem seiner Kunden in die Hand. Dann holt er unter dem Tresen einen lebensgroßen Puppenkopf hervor und bläst eine Wolke aus Staub, vom Puppenkopf, seinem Kunden ins Gesicht. Die inszenierte Überraschung ist ihm gelungen. Der kleine schwarze Vorhang schließt sich, das Publikum lacht und applaudiert euphorisch.

Theaterschaffen als Teil eines neuen außenpolitischen Konzepts

Hier, an einem solchen Markt, lassen die taiwanesischen Gruppe Prototype Paradise und der britische Künstler Joshua Sofaer ihr ‚Night Market Theatre‘ stattfinden. Die kollaborative Theaterarbeit von Prototype Paradise und Sofaer kann, in einem reflexiven Zusammenhang mit einem neuen außenpolitischen Paradigma des Landes stehend, verstanden werden.

Aufgrund von Taiwans politisch prekärem Status spielen Kunst und Kultur eine große Rolle für seine diplomatischen Beziehungen. Aufbauend auf einer Tradition kultureller Projekte im Rahmen internationaler Politik vertieft Taiwan auf diese Weise die Beziehungen zu Staaten rund um die Welt. Sie ist das Ergebnis der Professionalisierung einer neuen Identitätspolitik der Insel. Dieser Artikel stellt ein Beispiel aus den darstellenden Künsten als Mittel und Methode von Taiwans kultureller Diplomatie vor.

Die Peking Oper im Westen

Der Peking-Oper Darsteller Mei Lanfang war einer der bekanntesten Protagonisten, der die sinophone Theaterkultur im 20. Jahrhundert im Westen präsentierte. Als er in den 1930er Jahren eine Tour durch die USA machte, war sein Zur-Schau-stellen der chinesischen Kultur ein voller Erfolg. In einer Zeit der politischen Schwäche seines Heimatlandes sollte die internationale Reputation Chinas durch seine Opern-Show an Bedeutung und Achtung gesteigert werden.

Nachdem die nationalistische Kuomintang (KMT) sich Ende der 1940er Jahre nach Taiwan zurückzog, nützte sie zunächst weiterhin Aufführungen der Peking-Oper, um sich politisch als Beschützerin der traditionellen chinesischen Kultur zu inszenieren. Zur gleichen Zeit fungierte Mei Lanfang im kommunistischen Festlandchina als erster Präsident der neu gegründeten China National Peking Opera Company.

Die Entwicklung einer taiwanesischen Identität

Das Anliegen taiwanesischer Außenpolitik bestand zunächst ganz darin, Taiwan als ‘authentisch chinesisch’ zu behaupten. Nach dem Verlust der UNO-Mitgliedschaft begegnete man der diplomatischen Isolation noch mit dem Versuch, die qualitativen Charakteristika der alten chinesischen Kultur als ‚authentisch Eigene‘ auszustellen. Ab der Mitte der 1970er Jahre, mit dem Aufkommen einer „taiwanesischen Identität“, veränderte sich die Kulturpolitik der Insel. Chun-Ying von der University of London konstatierte die Entstehung einer einer ‘Taiwanese Awareness’, die Künstlerinnen zur Thematisierung identitätspolitischer Fragen anregte. Frühe Beispiele für künstlerisches Schaffen, die nachhaltig die kulturelle Identität Taiwans prägen, sind neben dem Cloud Gate Ensemble auch das 1985 von Henry Mazer gegründete Taipei Philharmonic Orchester oder das Legend Lin Tanztheater.

Die Politik einer eigenständigen taiwanesischen Kultur

Seit den 1990er Jahren bemüht sich die taiwanesische Regierung, die Eigenständigkeit und das Image der taiwanesischen Kultur durch ein gezieltes kulturpolitisches Engagement zu stärken. Künstlerinnen wurden auf Tourneen ins Ausland geschickt und eine Regierungsbehörde für kulturelle Angelegenheiten (Council for Cultural Affairs) eingerichtet. Aus dieser ging 1981 das Kulturministerium hervor. Diese Entwicklung ermöglichte die Vergabe staatlicher Kunst- und Kulturförderungen, die Unterstützung von Residence- und Austauschprojekten sowie, Schritt für Schritt, die aktive Kommunikation von Kunst und Kulturprojekten als Teil des Place-Branding Taiwans.

Zunächst verstärkte Taiwan seine kulturellen Beziehungen mit Ländern Nordamerikas, Europas und innerhalb Asiens mit Japan und Südkorea. Im Zuge der Emerald Initiative 2013, die den künstlerischen Austausch mit Ländern Südostasiens forcierte und der Southbound Policy 2016, einer Initiative der taiwanesischen Regierung unter Präsident Tsai Ing-wen, gelangten die verstärkte Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Taiwan und 18 Ländern in Südostasien, Südasien und Ozeanien in den Fokus wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit.

Theater an ungewöhnlichen Orten

Das ‚Night Market Theatre’ veranschaulicht diese Wendung der kulturpolitischen Ausrichtung Taiwans. Es ist eine Politik, die weniger auf repräsentative Werke, sondern auf die Entstehung einer gemeinsamen Kommunikationsbasis abzielt, wodurch sie eine Vertiefung transkultureller Arbeits- und Schaffensprozesse ermöglicht.

Die Gruppe Prototype Paradise hat sich auf Theater an ungewöhnlichen Orten spezialisiert. Gemeinsam mit Joshua Sofaer, der 2014 von der National Cultural and Arts Foundation zu diesem Projekt nach Taiwan eingeladen wurde, bespielte Prototype Paradise eine Bude auf einem traditionellen taiwanesischen Nachtmarkt. Diese wegweisende Arbeit ist als Beitrag zur Vertiefung von Taiwans transkultureller Kommunikation zu verstehen und schlägt eine Brücke von der taiwanesischen Kultur zu den Kulturen der Länder Südostasiens, und schließlich nach Europa.

Zeitgenössische Theaterarbeit im Kontext transkultureller Kommunikation

Die Kollaboration von Sofaer und Prototype Paradise im Jahr 2014 ist eines der ersten partizipatorischen Performance-Formate, die in Taiwan durchgeführt wurden. Ihr Night Market Theatre erforscht eine Örtlichkeit, wie man sie in ganz Südostasien findet. Als Westeuropäer wirft Sofaer in der Stadt Hualien einen verfremdenden Blick auf diese alltägliche Freizeitbeschäftigung. Auf einem bei Einheimischen wie bei Touristinnen beliebten Markt lässt er eine Intervention stattfinden, bei der Theater-Performerinnen als Standinhaberinnen fungieren.

Foto: Joshua Sofaer. Night Market Theatre von Joshua Sofaer, kuratiert von Yoyo Kung und Juan Chin, produziert von Prototype Paradise, Zhiqiang Night Market, Hualien, Taiwan, 2014.
Foto: Joshua Sofaer

Passantinnen können zwischen einem philosophischen oder spielerischen Angebot, einer Erzählung oder einem Song wählen. Die Performerinnen nehmen die Bestellungen des Publikums entgegen und verteilen Wartenummern an ihre ‚Kundinnen’. Dann rufen sie die Zusehenden nacheinander mit den Wartenummern auf. Ist die Einzelne an der Reihe, präsentieren die Künstlerinnen für sie eine Performance unterschiedlicher Dauer. Die Darbietungen kosten je nach Art und Länge einen bis 1.000 Taiwan-Dollars (ca. 3 Eurocent bis 30 Euro). Die Kundin wird Teil des Geschehens und kann individuell auf das Dargebotene reagieren und es beeinflussen.

Theater als transkulturelles Projekt: Das Netzwerk ist die beste Zeitgenossin

Der Zusammenarbeit mit Prototype Paradise geht ein erster Aufenthalt Sofaers auf Taiwan voran. Sofaer hielt einen Workshop ab und baute ein Netzwerk auf, das er für die folgende Arbeit nutzte. Die strategische Ermöglichung und Förderung transkultureller Kollaborationen vonseiten Taiwans, die solches, individuell betriebenes Networking professionalisiert, kann als paradigmatisch für die Motorik zeitgenössischer Formen transnationaler Kollaboration gelten.

Es lässt sich am Beispiel des ‘Night Market Theatre’ konstatieren, dass diese Theaterarbeit inhaltlich aus jenen Faktoren besteht, die sie strategisch konstituieren: Das Zusammenwirken von Netzwerken, Beziehungen, Verbindungen und dem vergnüglichen Zeitvertreib des Reisens wird in den einzelnen Sequenzen der Performance aufgegriffen. Das bewusste Verlassen der programmatisch kontrollierbaren Situation der Black Box des konventionellen Theaters verweist dabei umso mehr auf die demokratischen Arbeits- und Ausdrucksmöglichkeiten für Künstlerinnen in Taiwan.

Die, unter anderem vom Kulturministerium und dem staatlichen ‘Hualien Cultural and Creative Industries Park’ geförderte Theaterarbeit steht exemplarisch für den beschriebenen Wandel in der taiwanesischen Identitätspolitik. Diese bringt, der Richtung der Emerald Initiative und der Southbound Policy folgend, Taiwans Zugehörigkeit zum pazifischen Raum, die über den Topos des Nachtmarkts verdeutlicht wird, zum Ausdruck. Neben dieser Betonung der interasiatischen Verbindungen Taiwans wirken die Dynamiken von Mobilität und (süd-)ostasiatischer Regionalität mit dem Ziel, die eigene nationale Position durch transnationale Zusammenarbeit zu stärken. Die interaktiv konzipierte Performance nutzt eine Form der unterhaltsamen Kommunikation, mit der es gelingt, ihre inhaltliche Botschaft einem breiten Publikum im öffentlichen Raum näher zu bringen. Derart positioniert Taiwan seine kulturdiplomatisch erreichbaren Ziele überaus zeitgemäß in der ‚Weltordnung der Kulturnetzwerke’.


Link zum persönlichen Blog der Autorin: https://www.fredafiala.net/