Der chinesische Bürgermeister

Ansicht von Datong Foto: Chlukoe. Lizenziert unter CC0 1.0, Wikimedia Commons

DocuCorner #2

Filmkritik
von David Lenz

Filmische Einblicke ins Leben von Lokalbeamtinnen in China sind selten. Zhou Haos Dokumentarfilm „The Chinese Mayor“ ist eine Ausnahme. Der Regisseur begleitet den ambitionierten Bürgermeister der Stadt Datong und zeigt dabei die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des rapiden Wandels abseits der Wirtschaftszentren an der Ostküste.

Die nordchinesische Provinz Shanxi wird wegen ihrer Vielzahl an Kulturschätzen als „das Museum für Chinas altertümliche Kultur“ bezeichnet. Im öffentlichen Bewusstsein ist sie aber auch als Standort massiver Kohleproduktion verankert, berüchtigt für die damit verbundenen schlechten Umwelt- und Arbeitsbedingungen. Die Stadt Datong verbindet beides miteinander: einst dynastische Hauptstadt, genießt Datong heute den Ruf der „Kohlehauptstadt“ Chinas.

Geng Yanbo, der Bürgermeister der Stadt Datong (2008-2013) und Hauptprotagonist des 2015 erschienenen Dokumentarfilmes „The Chinese Mayor“ (大同, Datong), bemüht sich, die Kohleabhängigkeit zu reduzieren. Er knüpft dabei an das reiche Kulturerbe der Stadt an, in der Hoffnung auf die Einnahmen aus dem Tourismus. Doch bevor die Tourismusindustrie blüht, muss noch ganz viel geschehen: Die Stadtmauer muss ausgebaut werden, die alten Wohnblöcke sollen neuen Bauprojekten weichen und Teile der Bevölkerung umgesiedelt werden. Diese Maßnahmen sorgen für zahlreiche Kontroversen.

Multiple Identitäten und unterschiedliche Wahrnehmung

Geng gibt sich gerne als ein gütiger Leader aus. Im direkten Umgang mit den Menschen auf der Straße wirkt er wie eine Person, die stets ein offenes Ohr für die Anliegen der Bevölkerung bereithält. Manchmal kommt er aus seinem Büro im Militärkommando und hört sich die Probleme der Menschen direkt an. Statt einer systematischen Lösung setzt er einfach seine Unterschrift unter Dokumente oder erteilt umgehend eine Weisung und schon ist das Anliegen gelöst – die Leute kehren jubelnd nach Hause.

Im Umgang mit den Bauträgern und Untergebenen hingegen wirkt Geng kompromisslos. Er scheut keine Kritik, wenn die Projekte verzögert oder Entscheidungen nicht umgesetzt werden. Eine pragmatische und effektive Arbeitsweise zeichnet ihn aus. „Datong braucht jemanden, der wirklich was tut und keine Bürokraten,“ richtet er der versammelten Beamtinnenschaft aus.

Demolition Geng mit beschränkten Befugnissen

Privat in Gesprächen mit dem Regisseur reflektiert Geng offen über seinen Job als Bürgermeister. Unausgeschlafen spricht er über seine beschränkten Befugnisse und die Unterstützung seitens des Parteisekretärs, auf die er zwingend angewiesen ist. Manchmal wird er sogar emotional.

Diese facettenreiche Darstellung macht den Film stark. Regisseur Zhou Hao trifft keine eindeutige Bewertung von Datongs Bürgermeister. Auch die Bürgerinnen nehmen Geng unterschiedlich wahr und geben ihm einen Beinahmen wie aus der Rocky-Filmreihe: „Demolition Geng“ (耿拆拆).

Für den Bau der Mauer muss beinahe eine halbe Million Menschen umgesiedelt werden. Die Behörden erklärten einfach viele Häuser für illegal. Manche weigern sich, ihr Zuhause aufzugeben, oder sind mit der Entschädigung nicht einverstanden. Um die Geschwindigkeit der Bauarbeiten nicht zu verlangsamen, lautet die Maxime „Zuerst abreißen und erst dann die Wohnung erstatten“ (先拆后给房), was unweigerlich dazu führt, dass viele Menschen auf der Straße landen. Eine Betroffene zieht den Vergleich mit Qin Shihuang, dem ersten Kaiser Chinas, der den Bau der Großen Mauer anordnete und von der chinesischen Geschichtsschreibung als Despot gezeichnet wurde.

Trotz des Unmuts seitens mancher Stadtbewohnerinnen endet der Film mit einem Protestmarsch gegen die plötzliche Versetzung von Geng in die Provinzhauptstadt Taiyuan. Dort setzt er seinen Traum von einer Kulturhauptstadt fort und lässt Datong mit den halbfertigen Bauprojekten zurück.

Kontroverser Bürgermeisterstar

Geng erlangte bereits zur Zeit der Dreharbeiten im Jahr 2008 nationale Bekanntheit. Sein Name gelangte in die Auswahl der Volkszeitung von lokalen Führungskräften mit größter Aufmerksamkeit, 2009 war er auf dem Cover der Zeitschrift Oriental Outlook zu sehen.

All das und die Position als Bürgermeister in der etwa Drei-Millionen-Stadt war für den im Jahr 1958 in Shanxi geborenen Lokalpolitiker ein Riesenerfolg. Schon als Vize-Parteisekretär und Kreisoberhaupt im Kreis Lingshixian setzte er auf die Restaurierung der Privatresidenz der Wang-Familie und großflächige Abrisse. Den Vorgesetzten gefiel der Stil des „verrückten Gengs“ (耿疯子) und er stieg schnell nach oben auf.

Selbst nach seiner Pensionierung im Jahr 2019 ist Geng nicht in Vergessenheit geraten. Seine Sprüche kursieren im Internet, seine Projekte und insbesondere die imitierten Sehenswürdigkeiten sorgen für Kontroversen.

Ein Kreis in der Provinz Zhejiang wählte ihn sogar zum Modell für lokale Parteikader. Dabei wird er wegen seines unermüdlichen Arbeitsstils als „der echte Li Dakang“ (现实版李达康) angepriesen, ein Verweis auf die fiktive Figur eines Parteisekretärs aus der im Jahr 2017 ausgestrahlten TV-Serie „Im Namen des Volkes“. Wie der ikonische Li schreckt auch Geng nicht zurück und will seine Vision um jeden Preis umsetzen.

Vom Fotoreporter zum ausgezeichneten Filmemacher

„The Chinese Mayor“ ging aus der Zusammenarbeit zwischen dem preisgekrönten Filmemacher Zhou Hao und dem Produzenten und Regisseur Zhao Qi hervor und erhielt den taiwanesischen Golden-Horse-Preis und den Jurypreis am prestigeträchtigen Sundance-Festival.

Zhou Hao, ursprünglich als Fotoreporter für die staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua und Southern Weekly tätig, überzeugte als unabhängiger Filmemacher bereits im Jahr 2002 mit seinem Debut „Houjie Township“ zu den Arbeitsmigrantinnen in Guangzhou.

Aus der umfassenden Filmographie sticht der Film „The Transition Period“ (书记, Der Parteisekretär, 2009) hervor. Bereits hier ging Zhou den lokalen Beamtinnen nach und dokumentierte den Kreisparteisekretär Guo bei der Anlockung der Investitionen in den abgelegenen Kreis abseits der Wirtschaftszentren entlang der Ostküste.

Video: The Transition Period – Trailer
Quelle: Youtube/ dgeneratefilms

An Kontrasten mangelt es auch im „Parteisekretär“ nicht. Guo gibt tagsüber das anständige Parteimitglied und verwandelt sich abends zu einem korrupten Trunkenbold. Selbst wenn Geng eine ganz andere Wirkung erzielt, ist er sich, wie auch Guo im „Parteisekretär“, seiner Macht bei der entscheidenden Formung der Stadt bewusst. Geng bezeichnet seine Projekte als sein persönliches Erbe, das er für die nächsten Jahrhunderte hinterlässt.

Das Entwicklungsdilemma

Die Authentizität des Filmes wird auch dadurch verstärkt, dass der Regisseur nicht vorgibt, alles gezeigt zu haben – bei bestimmten Momenten muss die Kamera weg. Allerdings geht der Film wenig auf die Motivation hinter Gengs Wiederaufbau von Datong ein, auch die Kohleindustrie kommt kaum vor. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich der Film laut Zhao Qi in erster Linie an ein internationales Publikum richtet, und dabei die komplexeren Inhalte aus den 300 Stunden Filmmaterial ausgelassen wurden.

Die Kamera hält zahlreiche Details fest und geht einigen interessanten Nebengeschichten von Datongs Bewohnerinnen nach. Der Film zeigt Facetten des lokalen Beamtinnenseins in China abseits der Stereotypen aus den Nachrichten. Dabei macht er auf das Dilemma von vielen entlegenen Regionen im Wandel aufmerksam: soll man bei der Stadtentwicklung auf drastische Maßnahmen setzen, die dann in lokale Verschuldung resultieren? Wie geht man mit kurzen Mandaten bei einer langfristigen Politik um? Es gibt nur wenige Filme, die einen so tiefen Einblick in die Tätigkeit von Lokalpolitikerinnen in China liefern, obwohl sie es sind, die die lokalen Verhältnisse und die Entwicklung in China ganz entscheidend bestimmen.

Video: The Chinese Mayor/Official Trailer_1’30”
Quelle: Zhaoqi Films