Kommentierter Bericht
von Thomas Immervoll
Chinas Präsident Xi Jinping sieht Korruption als die größte Bedrohung für die Herrschaft der Kommunistischen Partei. Seit Jahren gehen chinesische Behörden bedingungslos gegen bestechliche Funktionärinnen vor. Doch Korruptionsbekämpfung allein kann die politischen Probleme Chinas nicht lösen, wie der Fall von Wukan zeigt.
Am 22. Juni 2016 gingen die Bewohnerinnen des südchinesischen Dorfes Wukan auf die Straße. Sie protestierten gegen die Absetzung ihres gewählten Repräsentanten Lin Zulan. Es ist das vorläufige Ende eines demokratischen Experiments in China.
Einer von vielen
Seit dem Amtsantritt der fünften Regierungsgeneration unter der Führung von Staatspräsident Xi Jinping steht der Kampf gegen Korruption ganz oben auf der politischen Agenda. Der Kampf gilt den „Tigern“ ebenso wie den „Fliegen“, also hohen korrupten Führerinnen ebenso wie niedrigen Funktionärinnen. Nun trifft es den Vorsitzenden des Dorfkomitees jenes südchinesischen Fischerortes, der vor einigen Jahren für Schlagzeilen sorgte.
Jährlich fallen tausende chinesische Kader der Kampagne gegen korrupte Funktionärinnen zum Opfer. Die Verfahren sind häufig undurchsichtig, doch konnten die Behörden bereits eine Reihe von Skandalen ans Licht bringen.
Lin ist also nur einer von vielen. Doch sein Fall zeigt, dass Korruptionsbekämpfung nicht immer genügt, um Konflikte zu lösen und die unzufriedene Bevölkerung zu kontrollieren.
Korruption „größte Bedrohung“
Am 1. Juli 2016 feierte die Kommunistische Partei Chinas ihr 95-jähriges Bestehen. In seiner Rede bezeichnete der Parteivorsitzende und Staatspräsident Xi Jinping Korruption als „die größte Bedrohung für die regierende Partei“. In den vergangenen Jahren unternahm die chinesische Führung große Anstrengungen, um gegen korrupte Funktionärinnen vorzugehen. Gleichzeitig meldeten Medien mehrere spektakuläre Urteile in Korruptionsprozessen. Allen voran wurde Ling Jihua, einst einflussreicher Weggefährte des damaligen Präsidenten Hu Jintao, zu lebenslanger Haft verurteilt. Dem 59-Jährigen wird vorgeworfen 77,08 Millionen Yuan an Bestechungsgeldern angenommen zu haben.
Doch häufig geht man unter dem Deckmantel der Korruptionsbekämpfung gegen unliebsame Gegnerinnen vor, wie auch der Fall von Wukan zeigt.
Vor fünf Jahren machte der Fischerort Wukan in der Provinz Guangdong im Südosten Chinas Schlagzeilen in den internationalen Medien. Am 21. September 2011 begann der Protest der lokalen Bevölkerung gegen die Enteignung von Grund und Boden durch Geschäftsleute und korrupte Kader. Der Konflikt eskalierte, nachdem Xue Jinbo, einer der Unterhändler der rund 12.000-20.000 Einwohnerinnen, in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen war. Sicherheitskräfte riegelten den Ort ab und belagerten ihn. Zufahrtsstraßen wurden blockiert und Handynetze gestört.
Zähe Verhandlungen und demokratische Wahlen
Nach langen Verhandlungen mit Regierungsvertreterinnen und der Freilassung inhaftierter Aktivistinnen einigten sich die Beteiligten auf ein in China neuartiges Verfahren. In freien Wahlen wählten die Bewohnerinnen Wukans 2012 ein neues Dorfkomitee. Sein Vorsitzender hieß Lin Zulan. Er war ein Anführer der Proteste von 2011 gewesen und genießt als solcher bis heute hohes Ansehen in der Dorfgemeinschaft. 2014 wurde er in seinem Amt wiedergewählt.
Doch diese politischen Vertreterinnen standen bald unter der Kritik der staatlichen Behörden. Diese gingen zunehmend gegen die Mitglieder des Dorfkomitees vor. Im vergangenen Juni nahmen die Sicherheitskräfte Lin schließlich in Gewahrsam.
Eine anonyme Posterin hatte dem 72-Jährigen am 23. Juni vorgeworfen, im Zuge eines Baus einer Laufbahn für eine lokale Schule 80.000 RMB an Bestechungsgeldern kassiert zu haben. Die Gesamtkosten des Projekts hätten sich demnach auf 420.000 RMB belaufen. Die staatliche Tageszeitung China Daily bestätigte diese Angaben am selben Tag. Dem Bericht zufolge habe Lin darüber hinaus 20 Hektar Land zu einem zu niedrigen Preis verkauft, ohne den Deal mit anderen Offiziellen zu diskutieren. Der Beschuldigte habe demnach seine Taten gestanden.
Experiment der Demokratie vor dem Ende
Das Experiment von Wukan steht vor seinem Ende. Doch am 20. Juni protestierten rund 1000 Dorfbewohnerinnen gegen Lins Festnahme. Sie wollen das Vorgehen der Sicherheitskräfte nicht akzeptieren. Die Menschen hegen tiefes Misstrauen gegen die Behörden. Seit dem Ende der Proteste vor fünf Jahren hat sich wenig geändert.
Von den damals gewählten Repräsentantinnen sind die meisten nicht mehr im Amt. Viele der alten Kader, die das Dorf vor 2012 kontrollierten, gewannen ihren ursprünglichen Einfluss zurück. Die damals enteigneten Grundstücke wurden auch fünf Jahre nach den Protesten nicht an ihre vorherigen Eigentümerinnen zurückgegeben.
Keine Lösung für relevante Probleme
Schon in den vergangenen Jahren war Lin von seinen politischen Kritikerinnen Bestechlichkeit vorgeworfen worden. Die gegenwärtigen Proteste sind Ausdruck mit einer Unzufriedenheit über den geringen Fortschritt betreffend die Lösung jener Probleme, die die Unruhen von 2011 ausgelöst haben.
Es ist in den vergangenen Jahren nicht gelungen, das Vertrauen der Bewohnerinnen von Wukan in die Behörden wiederherzustellen. Durch die rechtliche Verfolgung von Lin wird der bestehende Konflikt nochmals verschärft.
Die Grenzen chinesischer Politik
Es scheint daher fraglich, ob das scharfe Vorgehen gegen korrupte Kader alleine reicht, um die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas zu festigen. Der Kampf, den Präsident Xi ausgerufen hat, wird viele lokale Konflikte erst recht befeuern.
Noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass die neuen Proteste in Wukan für die Zentralregierung relevante Ausmaße erreichen. Doch sie zeigen der Kommunistischen Partei Chinas die Grenzen der Wirksamkeit ihrer politischen Instrumente auf. Einzelne Kader werden aus ihren Ämtern entfernt. Die Konflikte bleiben aber bestehen.