Von Julia Ritirc
Yi-Jye Chen spricht mit mir darüber, wie er in Österreich aufgewachsen ist, wie er zur Volksrepublik China steht, über die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Jänner und aus welchen Gründen er nach Taiwan ausgewandert ist. Ein Porträt.
Auf den ersten Blick sieht Yi-Jye aus wie andere Taiwanesen. Er lebt mit seiner Freundin in einer Wohnung in Taipei, fährt einen Toyota und arbeitet in einem taiwanesischen Unternehmen in Taishan. Jeden Morgen und Abend verbringt er zu viel Zeit in Taipeis täglicher Verkehrshölle, dem Stau auf der Stadtautobahn, hier allgemein als saiche bezeichnet.
Yi-Jye (oder auch Itze) holt mich mit seinem Auto vor dem Starbucks der National Chengchi University ab. Ich steige ein und wir begrüßen uns mit einem vertrauten oberösterreichischen “Seervas!”. Sein Linzer Mundwerk löst jedes Mal wieder ein leichtes Gefühl der Irritation in mir aus.
Itze wurde 1981 in Taipei geboren, seine Mutter stammt aus dem Süden, sein Vater aus dem Norden Taiwans. Kurz vor Ende der Militärdiktatur 1985 wanderte Itzes Vater nach Österreich aus, ein Jahr später kamen Itze, seine Mutter, seine beiden Brüder und seine Großeltern nach.
Herr Chen war überzeugt, dass er seiner Familie und insbesondere seinen Kindern in Österreich ein besseres Leben und eine gute Ausbildung ermöglichen könnte. Seine Frau und er nahmen dafür Entbehrungen in Kauf. „Sie haben immer nur gearbeitet, hatten nie Urlaub […] um uns Kindern alle Möglichkeiten bieten zu können. Es hat mir und meinen Brüdern an nichts gefehlt, wir sind genauso wie unsere Klassenkameraden auf Schikurs gefahren, hatten Fahrräder und Computer zu Hause.”
Während die Eltern ein Restaurant führten, übernahmen die Großeltern die Kindererziehung. So lernten die drei Brüder auch Taiyu (Taiwanesisch, Anm. d. Autorin). Die taiwanesische Herkunft und Identität nahm im Hause Chen eine zentrale Stellung ein: „Taiwanesen denken anders als Chinesen. Obwohl wir die gleiche Sprache sprechen, gibt es viele Unterschiede […] Ich denke auch, dass es einen Unterschied machen würde, wenn ich in einem kommunistischen Land aufgewachsen wäre.”
In Taiwan fanden im Jänner 2012 die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Die Politik der Insel ist gespalten in zwei Lager, die ideologische Bruchlinie bildet sich an der Chinapolitik. Die frühere autokratische KMT (Kuomintang) tritt für eine Annäherung an die Volksrepublik China ein. Die oppositionelle DPP (Democratic Progressive Party) hat sich aus einer Widerstandsbewegung gegen das autoritäre Regime der KMT gebildet und tritt für ein wirtschaftlich und politisch unabhängigeres Taiwan ein.
Auf die Frage nach seiner politischen Affiliation antwortet Itze ausweichend. “Was Politik betrifft hab ich meine eigene Meinung und jeder Taiwanese hat seine eigenen Gründe für seine politische Einstellung. Als Auslandstaiwanese will ich mich nicht allzu viel dazu äußern, aus Respekt vor den Taiwanesen. Aber ich sag nur so viel: Ein Österreicher will auch nicht für einen Deutschen gehalten werden!”
Itzes Familie in Österreich verfolgte die Wahlen mit großem Interesse. Die Erfahrung, in einer Militärdiktatur aufgewachsen zu sein, hat seine Eltern und deren politische Einstellung geprägt. So auch die Itzes, bei dem darüber hinaus der Einfluss einer westlichen Demokratie wirkt.
Obwohl in einem taiwanesischen Umfeld aufgewachsen, entwickelte Itze erst im Erwachsenenalter ein profundes Interesse für Chinesisch und seine taiwanesischen Wurzeln. Mit 23 Jahren konnte er schließlich mit einem Auslandsstipendium der Kepler Universität Linz und des Landes Oberösterreich in Taiwan zu studieren beginnen. Als Überseetaiwanese kam Itze für ein Stipendium des taiwanesischen Bildungs- bzw. Außenministeriums nicht in Frage. Itze empfindet das als Diskriminierung von taiwanesischer Seite und kann eine solche Stipendienpolitik nicht nachvollziehen. Anstatt jene zu fördern, die einen langfristigen, tatsächlichen Austausch zwischen Taiwan und Österreich vorantreiben könnten, werden Stipendien an Studentinnen vergeben, von denen der Großteil nach einem Aufenthalt von ein paar Monaten während ihres Studiums nie wieder nach Taiwan zurückkehrt.
Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Itze noch drei Jahre in Österreich ehe er den Entschluss fasste, seinen beruflichen Werdegang in Asien fortzusetzen. “In Österreich bin ich nur einer unter vielen, in Asien habe ich mehr Chancen und Optionen und kann meine Stärken ausspielen.” Die soziale Sicherheit in Österreich gehe auf Kosten der Weiterentwicklungsmöglichkeiten und biete jenen Menschen, deren Ambitionen durch ihren kulturellen Hintergrund und ihre Mehrsprachigkeit steigen, nicht genügend Optionen. „Jeder, der einen ähnlichen Background hat wie ich, wird das genauso sehen. Jeder, der drei oder vier Sprachen spricht, wird sich nicht mit einem normalen Job in Österreich zufrieden geben. Das sehe ich ja auch bei anderen Überseetaiwanesen in Österreich – viele sind auf der Welt verstreut, in Shanghai, Hong Kong, London, Amsterdam und ähnlichen Städten.”
Es ist 19.45, ich packe mein Notebook ein und bezahle das Essen. “So, jetzt gemma auf a Bier!” Mit diesen Worten verlassen wir das Lokal und begeben uns unter unseren bunten Regenschirmen in den winterlichen Nieselregen Taipeis.