Sehnsucht nach Wien hatte er bereits, bevor er die Stadt je gesehen hatte. „Ich habe mir Wien als alte Kaiserstadt vorgesellt, mit Häusern in Jugendstil-Architektur und einer von Klimt, Schiele und den Wiener Werkstätten dominierten Kunstszene“, sagt der Dichter und Maler Q.G. Li.
Mit Wien verbindet ihn nicht nur die Kunst. Als Spitzenstudent schließt er sein Studium an der Kunstakademie Shanghai ab und zieht im Jahr 2002 mit seinem Freund, einem österreichischen Austauschstudenten, nach Wien. Im Gegensatz zu vielen anderen chinesischen Studenten, die zum ersten Mal ihre Familien verlassen und in ein fremdes Land gehen, kam er mit der Unterstützung seines Freundes in Wien an. Vieles wurde dadurch erleichtert und vor allem organisatorische Hürden waren einfacher zu überwinden. Dennoch bezeichnet er seine Ankunft in Wien als schmerzhafte Wiedergeburt. „Am Anfang war ich eigentlich ein bisschen von Wien enttäuscht, die idyllische Stadt existiert einfach nirgendwo.“ Das Bild einer Stadt reflektiert auch das Eigene und das Selbst. Besonders Lis künstlerisches Schaffen veränderte sich mit seinem neuen Lebensbeginn in Wien, und so bedeutete sein Lebenswandel auch einen Wandel seiner Kunst. Das Jugendstil-Wien mit seinen „tätowierten Häusern am Naschmarkt“ rückt in die Ferne und er sieht sich zunehmend mit moderner Kunst konfrontiert, die er als grausam empfindet. Realität und Fantasie treffen aufeinander, vermengen sich und verändern sein Bild von der Stadt und dereigenen Existenz. Durch diese Erfahrungen stellt er auch seine alte Ästhetik in Frage. „Kurz zuvor war ich noch ein Spitzenstudent in China und plötzlich befand sich meine Kunst in einer Krise“. An der Wiener Akademie der bildenden Künste wird er für das Fach Szenographie aufgenommen. Anfangs scheint ihm sein Leben wie ein zerbrochener Traum. „Die ersten Jahre waren sehr schwierig. Ich hatte kaum Freunde und pendelte zwischen Wohnung und Vorlesung.“ Sein Studentenalltag ist einsam. In dieser Zeit entsteht auch sein Gedichtband „Buch des Himmels“, der in diesem Jahr veröffentlicht wird.
Shanghai und Wien empfindet er als Oberfläche und Boden eines Flusses. Die rasante Entwicklung Shanghais ist wie ein Schwimmen auf der Oberfläche, Wien hingegen ist ein ruhiger und stabiler Ort. Beide sind für ihn Heimatstädte.
Die Kunstszenen in China und Österreich sieht er als sehr unterschiedlich. Die letzten Jahre haben in China viel verändert und immer mehr Kunstsammler drängen auf den chinesischen Markt. In Österreich nehmen klassische Musik, Oper und Theater nach wie vor einen großen Raum ein. Andere Kunstbereiche wie Film, Malerei, Bildhauerei und Popmusik hingegen rücken nur langsam ins Licht. „China und Österreich haben eine großartige Vergangenheit was die Kunst betrifft und ich denke, dass auch die zeitgenössische Kunst viel Potenzial und [eine] Zukunft hat.“
Während seiner Jahre in Wien hat sich seine eigene Kunst geformt und entwickelt. Heute sieht er sich als austro-chinesischer Künstler. Seine Sehnsucht nach Wien ist kompliziert. Sein heutiges Wien ist anders als sein damaliges Wien. Wegzugehen kann er sich nicht vorstellen, denn sein Leben und seine Kunst sind in Österreich verhaftet. „Du kannst die Stadt lieben und du kannst die Stadt auch hassen. Aber du kannst sie nicht verlassen.“
Wien von Q.G. Li
Selbst wenn unendliche Ruhe noch mit Stille erfüllt ist. Selbst wenn tiefschlafend im schönsten Traum die Zeit dennoch nie stehenbleibt.
Wandernde Gedanken sind die Denkmäler der Exilanten.
Heimat und Hoffnung sind die zwei Enden einer Straße.
Eine Träne ist kostbarer als ein Lachen.Ich werde zu diesen Gebäuden.
Ich werde zu Augenblicken.
Ich werde zu Beistrichen und Auslassungspunkten.
Ich werde zu tagtäglicher Ewigkeit.Man kann die Seele eines Menschen nur lesen, wenn er sich niederlegt.Entfernt von Spiegelbild und Schatten; versuche ich von der treibenden Oberfläche in die Tiefe zu sinken. Einzahl ist das zerstreute Ganze.
Aus: „Buch des Himmels“, erschienen im Letter P Verlag
Übersetzungen von Alexander Ludwig und Lea Pao.