Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt

Foto: Wuhan Diary. Hoffmann und Campe Verlag

Rezension
von Thomas Immervoll

In ihrem Online-Tagebuch schreibt die chinesische Schriftstellerin Fang Fang über das tägliche Leben während des Lockdowns in Wuhan. Gleichzeitig schreibt sie offen über die Zensur im Internet und fragt nach der politischen Verantwortung im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Dafür erntete sie viel Kritik aber auch Anerkennung vonseiten der Öffentlichkeit.

Fang Fang ist keine Dissidentin. Die ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerinnenverbandes der Provinz Hubei, die mit bürgerlichem Namen Wang Fang heißt, ist eine der prominentesten Autorinnen Chinas. Romane machten sie in China populär, 2010 erhielt sie den begehrten Lu-Xun-Preis, 2017 den Lu-Yao-Preis. Die meisten ihrer vielen Texte spielen in ihrer Heimatstadt Wuhan, die zum ersten Brennpunkt der Corona-Epidemie werden sollte. Von hier aus nahm die Verbreitung des Virus ihren Ausgang.

Leben in einer abgeriegelten Stadt

Als die Behörden am 23. Januar 2020, kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest, die Stadt abriegeln, befindet sich Fang Fang in ihrer Wohnung. Wie die etwa 9 Millionen Einwohnerinnen, die sich zur Zeit der Ausrufung des Lockdowns in der Metropole aufhielten, war auch sie gezwungen, sich an die Ausgangsbeschränkungen zu halten. Sie verbrachte all die Wochen zuhause, ihre Wohnung verließ sie nur für wichtige Besorgungen.

Die Schriftstellerin nutzte die Zeit, um in einem Online-Tagebuch über die Entwicklungen in Wuhan während der Corona-Epidemie zu berichten. Sie tut das aus einer persönlichen Perspektive, berichtet über Ereignisse aus ihrem persönlichen Umfeld, aus ihrer Nachbarschaft. Regelmäßig gibt sie dabei individuellen Schicksalen Raum. Sie schreibt über Nachbarschaftshilfe und die regelmäßigen Zustellungen von alltäglichen Dingen, die sie am Eingang zu ihrem Wohnblock abholt.

„So viele Seufzer und Tränen“

Sie schreibt über Ärztinnen und Krankenpflegerinnen, die ihr Leben riskieren, um die Seuche in den Griff zu bekommen. Daneben berichtet sie in ihrem Tagebuch von Menschen, die in der Straßenreinigung und der Polizei tätig sind oder die sichehrenamtlich für die Verteilung von lebensnotwendigen Gütern engagieren.

„Heute früh ist eine junge Ärztin Opfer ihrer Pflichterfüllung geworden. Genau wie der vor zwei Tagen dahingeschiedene Arzt Peng Yinghua war sie erst 29, sie hieß Xia Sisi. Sie hinterlässt ein zweijähriges Kind. Und am Abend hat uns ein weiterer Arzt verlassen, gerade einmal Anfang 40, sein Name war Huang Wenjun. Seufzer und Tränen. So viele Seufzer und Tränen. Wortlos gebe ich diese Nachrichten weiter.“ (Seite 146)

Auch neueste Berichte zu den Entwicklungen rund um das neuartige Corona-Virusfinden Eingang. Ihre Informationen kommen nicht nur aus offiziellen Quellen. Fast jeden Tag zitiert sie Expertinnen, die ihr persönlich Daten und Einschätzungen zur aktuellen Lage zukommen lassen. Sie versucht sich selbst ein Bild zu machen und teilt das ihren Leserinnen mit.

Über 4,8 Millionen Followers

Viele Menschen schreiben zu dieser Zeit im Internet über ihre persönlichen Erfahrungen in der Corona-Krise. Doch nur wenige dieser Berichte werden so häufig gelesen wie das Tagebuch von Fang Fang. Die Schriftstellerin ist in China sehr prominent und kann über ihre Blogs und Social Media viele Menschen erreichen. Ihre Position verleiht ihr eine Autorität, die offenbar viele Leserinnen motiviert, ihre Beiträge zu teilen. Zudem charakterisiert eine besondere Mischung aus verschiedenen Perspektiven die Darstellung, die über individuelle Erfahrungen hinausgeht und zur kritischen Reflexion anregt.

Ursprünglich nicht für ein breiteres Lesepublikum gedacht, werden die Beiträge dennoch von Anfang an mit dem Eingreifen der Zensur konfrontiert. Einzelne Texte werden gelöscht oder sind der Öffentlichkeit nicht uneingeschränkt zugänglich. Doch sie verbreiten sich dennoch schnell im Internet. Immer wieder muss sie den Kanal wechseln, über den sie ihr Tagebuch veröffentlicht.

Der Kampf um die Meinungshoheit

Das Tagebuch befasst sich von Beginn an mit der Frage, wer für diese Krise verantwortlich sei. Warum wurde die Öffentlichkeit so spät informiert? Warum ließen die zuständigen Stellen in der Anfangsphase so viel Zeit verstreichen? Am wichtigsten ist jedoch die Frage: Warum übernimmt niemand die Verantwortung für die Fehler und entschuldigt sich bei den vielen Menschen, die durch die zögerliche Reaktion der Behörden ihre Liebsten verloren haben und so lange ihrer Lebensqualität beraubt wurden?

Die Autorin beschäftigt sich auch mit der Rolle der Zensur im Internet. Während ihre Texte, die sich doch immer an den Fakten orientierten, regelmäßig mit Einschränkungen konfrontiert würden, könnten „Linksextreme“, die sie persönlichund unsachlich angriffen, im Internet tun und lassen, was sie wollten, so ihre Kritik.

Zwischen Beschimpfungen und Unterstützung

Im Laufe des Buches wird der Text immer klarer. Fang Fang schreibt: „Reflexion und die Frage nach Verantwortung gehören zusammen. Ohne strenge und hartnäckige Fragen nach der Verantwortung kann es keine ernsthafte Reflexion geben.“ (Seite 240)

Diese Fragen stoßen auf starken Widerhall in der chinesischen Öffentlichkeit. Die einen beschimpfen sie und werfen ihr vor, negative Inhalte zu verbreiten. Anderen wiederum erscheinen die Fragestellungen wichtig und die Kritik der Autorin berechtigt.

Im westlichen Ausland wurde das Buch insbesondere wegen seiner durchaus öffentlichen Kritik an den Verantwortlichen wahrgenommen. Vielfach machte diese Rezeption das Buch zu etwas, das es nie sein wollte. Diese Lesart verkennt die Vielschichtigkeit des Textes.

Instrumentalisiert von ausländischen Mächten?

Die öffentliche Debatte in China wiederum änderte sich nochmals, als bekannt wurde, dass das Tagebuch im Ausland in Buchform erscheinen sollte. Viele, die sie bis dahin unterstützt hatten, wandten sich nun von ihr ab. Die Kritiken warfen ihr vor, sich vom Ausland instrumentalisieren zu lassen und ein negatives Bild vom Umgang mit der Epidemie in China zu zeichnen.

Tatsächlich wurde das Online-Tagebuch umgehend in mehrere Sprachen übersetztund liegt auch im Deutschen in Buchform vor. Fang Fang schildert auf anschauliche Weise ihr Leben während des Lockdowns in Wuhan. Sie bringt auch westlichen Leserinnen das Leben einer chinesischen Intellektuellen, aber auch diegesellschaftlichen Konflikte in Zeiten der Pandemie näher.

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