Von Julia Ritirc
Taiwan gestaltet seine nationale Politik gemäß dem Entwicklungsparadigma „Nachhaltigkeit“, um den zunehmenden sozialen und ökologischen Problemen zu begegnen. Dazu gehören knappe Ressourcen, wachsender Energieverbrauch und steigende Treibhausgasemissionen. Im Bereich des Umwelt- und Klimaschutz gilt die kleine Inselnation als Vorreiterin. Oft stehen jedoch wirtschaftliche Interessen im Vordergrund.
Eine wichtige Säule der taiwanischen Umweltpolitik ist die Trennung von Abfallprodukten der Industrie und individueller Haushalte. Anfang 2000 begann Taiwan, Recyclingpolitik zu forcieren. Die existierende Umweltgesetzgebung wurde verschärft und die Kompetenzen der Verwaltungsbehörde für Mülltrennung erweitert. Im Zuge dessen wurde Mülltrennung standardisiert und nationalisiert und eine „verbindliche Recyclingpolitik“ aufgenommen. Die Verantwortung zur Mülltrennung wurde Konsumentinnen, Produzentinnen und Importeurinnen übertragen und der Staat kümmert sich gemeinsam mit Privatanbieterinnen um das Recycling. In der Industrie werden jährlich festgelegte Recyclinggebühren von der Verwaltungsbehörde bei den Firmen eingehoben. Individuelle Haushalte sind verpflichtet, ihren Müll zu trennen und zu der nächstgelegenen Sammelstelle zu bringen, wo fast täglich Müllwägen des Ministeriums für Umweltschutz Papier, Flaschen, Plastik, Dosen und Biomüll einsammeln. Allgemeiner, nicht-recyclebarer Abfall kann nur in behördlich abgestempelten Säcken entsorgt werden. Der relativ hohe Preis dieser Säcke dient als effektiver Anreiz, den allgemeinen Abfall so gering wie möglich zu halten. Das Resultat dieser Politik lässt sich sehen: innerhalb eines Jahrzehnts steigerte Taiwan seine Recyclingrate von 1,3% im Jahr 1998 auf 39,9% im Jahr 2011. Das registrierte jährliche Gesamtmüllaufkommen verringerte sich in diesem Zeitraum von 8,88 Millionen Tonnen auf 7,47 Millionen Tonnen und der Pro-Kopf-Verbrauch von 1,14 kg auf 0,88 kg.
In der Nachhaltigkeitsforschung ist der taiwanische Staat ein maßgeblicher Fördergeber. Der Nationale Wissenschaftsrat, eine Regierungsbehörde, die Forschungsprojekte koordiniert und finanziert, nimmt hier eine zentrale Stellung ein. 2013 werden 18 Forschungsprojekte finanziert, darunter die Themenbereiche Gesellschaft, Energie, Politiksteuerung, Landwirtschaft, Technologie und Innovation. Auf der Suche nach innovativen Lösungen – insbesondere für die Prioritätsbereiche Energieeffizienz und Wassermanagement – wurden intensive Partnerschaften mit Europa, den USA und der VR China begründet. Unter dem 7. Rahmenprogramm für Forschung, Technologische Entwicklung und Demonstration der Europäischen Union laufen zurzeit neun Projekte in Zusammenarbeit unter anderen mit der National Taiwan University, der National Cheng Kung University, der National Tsing Hua University, und der Academia Sinica. Ähnliches gilt für die Industriepolitik im Bereich Umwelt- und Biotechnologie. Taiwan greift dabei auf die Erfahrungen seiner erfolgreichen High-Tech-Industrie zurück.
Trotz der eindrucksvollen Recyclingzahlen und der Förderstrukturen scheint die nachhaltige Entwicklungsstrategie den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie nicht zu lösen, denn die nationale Politik bedient nach wie vor stark die Interessen der Wirtschaft. Professor Wang Jenn-hwan, Vorstand des Instituts für Entwicklungsstudien der National Chengchi University, und Experte auf dem Gebiet der Umweltpolitiksteuerung meint dazu: „In Anbetracht der Ressourcenknappheit spielen Ansätze der nachhaltigen Entwicklung eine immer wichtigere Rolle, nichtsdestotrotz bleiben Wirtschaftspolitik und Industriepolitik Priorität.“
Mit Beginn des 21. Jahrhunderts hat der Umweltschutz in Taiwan eine Aufwertung erfahren. 2003 wurden 0,42% des BIP in den Umweltschutz gesteckt. Der Anteil ist seitdem jedoch sukzessive gesunken. Das Budget 2012 wendete nur mehr 0,33% des BIP für den Umweltschutz auf. Schuld daran sind die globale Finanzkrise und die anhaltende wirtschaftliche Stagnation der taiwanischen Volkswirtschaft.
In den letzten Jahren ist der Druck auf die Regierung und ihre Wirtschaftspolitik von Seiten der Gesellschaft gewachsen. Der erhoffte Aufschwung mit der Wiederwahl des Präsidenten Ma Ying-jeou trat nicht ein. Die Unzufriedenheit und der artikulierte Unmut der Bevölkerung gegenüber der regierenden Kuomintang wächst. Steigende Lebenskosten, stagnierende Löhne, hohe Inflation und steigende Arbeitslosigkeit, von der vor allem die junge Generation betroffen ist, lassen Forderungen nach einer aggressiveren Wirtschaftspolitik immer lauter werden.
Auf gesellschaftlicher Ebene werden Umweltschutz und ein nachhaltiger, sinnvoller und kritischer Konsum von Energie und Ressourcen im Alltag nur mangelhaft umgesetzt. Der exzessive Konsum von Klimaanlagen in privaten wie öffentlichen Gebäuden und in Verkehrsmitteln sorgen für steigende Treibhausgasemissionen. Im Sommer führt das zu einem spürbaren Temperaturanstieg in den Städten. Die allseits beliebten Milchtees in Plastikbechern und das Take-Away-Bento (Reisgericht) mit Einwegstäbchen tragen zur weiteren Anhäufung von unnötigem Müll bei. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis manifestiert sich auch in Unikursen zum Thema Umweltschutz und Klimawandel, wo die Umsetzung der fundamentalen Prinzipien von Nachhaltigkeit oft schon im Seminarraum und an seinen einzelnen TeilnehmerInnen scheitert (siehe Klimaanlage).
Der hohe Stellenwert von wirtschaftlichem und technologischem Fortschritt als Indikator für Entwicklung und Modernisierung gründet in Taiwans historischer Entwicklung und in seiner auf Industrie und Technologie fokussierte Politik. Die alltägliche Praxis entlarvt die Schwachpunkte einer weiter bestehenden Top-Down-Politik und das noch relativ schwach ausgebildete handlungsorientierte Umweltbewusstsein innerhalb der taiwanischen Gesellschaft.
Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass die taiwanische Gesellschaft nicht am Schutz ihrer Umwelt und gesünderen Lebensbedingungen interessiert wäre und nichts zu ihrer Verbesserung beitragen würde. Proteste und Petitionen gegen verschmutzende Industriebetriebe und Bauvorhaben, welche die natürlichen Schönheiten der Insel und den Lebensraum der Menschen zerstören, sowie Forderungen nach höheren und stärker überwachten Lebensmittelstandards zeugen für ein steigendes Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein und die Bereitschaft eines Teils der Zivilgesellschaft, sich für den Erhalt und Schutz seiner Natur und der Verbesserung der Lebensqualität einzusetzen. Es bleibt jedoch abzuwarten, in welcher Intensität sich dieser Trend fortsetzt.