Interview mit Prof. Timothy Cheek â Teil 1 von 2
von Sabine Hinrichs und David Lenz, ĂŒbersetzt von Sabine Hinrichs
Viele Beobachter*innen vergleichen den chinesischen PrĂ€sidenten Xi Jinping mit Mao Zedong, dem GrĂŒnder der Volksrepublik China. Doch wie Ă€hnlich sind sich die beiden chinesischen FĂŒhrer wirklich? Wir sprachen mit Timothy Cheek von der UniversitĂ€t von British Columbia.
Timothy Cheek ist Historiker und arbeitet zur Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und den Intellektuellen in der Volksrepublik. Er ist Leiter des Institute of Asian Research der University of British Columbia und besetzt den Louis-Cha-Lehrstuhl fĂŒr Chinastudien an der School of Public Policy and Global Affairs.
dasReispapier: HÀufig werden in der Presse Vergleiche zwischen dem amtierenden chinesischen StaatsprÀsidenten Xi Jinping und Mao Zedong angestellt. Sehen Sie Parallelen zwischen den beiden?
Timothy Cheek: Es ist verstĂ€ndlich, dass man auf Mao zurĂŒckgreift, da Xi so viel Macht angehĂ€uft und sich in deutlich mehr FĂŒhrungspositionen gebracht hat als seine jĂŒngsten VorgĂ€nger. Wenn man auĂerhalb Chinas dann beobachtet, wie die Partei sich auf eine FĂŒhrungsperson fokussiert und solche Schlagworte wie âKernâ (æ žćż) verwendet, dann ist die Reaktion: âOh, oh, wann haben wir das denn das letzte Mal gesehen?â Mao ist dabei nicht nur ein Vergleichsobjekt, sondern auch eine Metapher fĂŒr Ablehnung. Denn de facto besaĂ Deng Xiaoping [fĂŒhrender chinesischer Politiker in den 1980er und 1990er Jahren, Anmerkung der Redaktion] in etwa dieselbe Macht und verfolgte â mit Ausnahme der Niederschlagung der Proteste am Platz des Himmlischen Friedens vom 4. Juni 1989 â eine Politik, mit der wir im Westen allgemein zufrieden waren, wie die Politik von Reform und Ăffnung. Deshalb denke ich, dass ein Vergleich zwischen Xi und Mao unpassend ist, wenn es darum geht, wie die Partei agiert und welchen Tendenzen Xi offenbar nachgeht. Gemessen an seinen Aussagen und AktivitĂ€ten ist Xi nicht wie Mao, sondern wie Liu Shaoqi [PrĂ€sident der Volksrepublik China 1959-1968, spĂ€ter verfolgt und aus der Partei ausgeschlossen, 1980 posthum rehabilitiert, Anm. d. Red.].
âSelbst wenn Mao frĂŒher gestorben wĂ€re, wĂ€re China nicht liberal und moderat geworden.â
– Timothy Cheek
Warum denn wie Liu Shaoqi?
Xi orientiert sich deutlich mehr an jener Art von Ideologie, die wir mit Liu verbinden. Ich gebe ein einfaches Beispiel: Wenn Mao die Partei aufrĂŒtteln wollte, so lieĂ er die âIrregulĂ€renâ anrĂŒcken. Er bediente sich der Intellektuellen, danach der Bauern und spĂ€ter der Studierenden. Das tat er, weil er der Partei misstraute. Was war hingegen Lius Herangehensweise in solchen FĂ€llen? Er schickte Arbeitsgruppen hinein. Und was ist die Zentrale Disziplinarkommission, auf die Xi so sehr baut? Eine Reihe von Arbeitsgruppen.
Unter Xi findet eine RĂŒckkehr zu harscher, intoleranter Orthodoxie statt, einer Orthodoxie, die wir aus der Vergangenheit kennen und die wir auch mit der Mao-Ăra verbinden, nur dass diese gĂ€nzlich von Liu befĂŒrwortet wurde. Ich denke, was wir unter Xi beobachten, ist eine sehr intolerante Ideologie, welche sĂ€mtliche Alternativen ausschlieĂt und eine ânach auĂen gerichtete Manifestationâ (èĄšç°) erfordert, also die öffentliche Darbietung der erwarteten politischen Handlung. Und das wĂ€re so ziemlich das China der 1960er Jahre ohne Mao gewesen.
Mit anderen Worten, es wĂ€re nicht alles liberal und moderat und fröhlich geworden, wenn Mao frĂŒher gestorben wĂ€re. China hĂ€tte trotzdem diese Art von institutionalisierter Ideologie gehabt. Meiner Ansicht nach wurde China im 20. Jahrhundert durchweg von Regimen regiert, die sich der ideologischen FĂŒhrung bedienten.
Was meinen Sie genau mit ideologischer FĂŒhrung?
Das meint eine Art von FĂŒhrung, wie sie Xi Jinping verfolgt. Diese FĂŒhrung benötigt eine Ideologie, die ehrgeizig, allumfassend, spezifisch und fordernd ist, ein wenig wie der frĂŒhneuzeitliche Katholizismus. Und ich unterscheide Mao, Liu und Xi noch in einem anderen Punkt, und zwar an den politischen SĂ€uberungen. Maos SĂ€uberungen waren wie die Hexenprozesse von Salem â Menschenmassen rennen umher, schnappen sich ein paar arme Seelen und werfen sie ins Wasser und zĂŒnden Scheiterhaufen an. Lius SĂ€uberungen allerdings waren nicht so chaotisch. Diese liefen geordnet ab, so wie die Spanische Inquisition.
Egal, ob Mobgewalt oder institutionalisierter Terror, wir alle beachten die Ăbergriffe, den Terror und die Gewaltexzesse. Eine ideologische FĂŒhrung braucht eben diese Mittel der Kontrolle. Aber dazu gehört noch viel mehr, beispielsweise die âpositive Propagandaâ von Wissenschaft, Zivilisation und Ordnung. Das hat nicht Mao erfunden und auch nicht Xi. Der erste ideologische AnfĂŒhrer des modernen China war Sun Yat-sen [Politiker und Denker, 1912 zum ersten PrĂ€sidenten der Republik China gewĂ€hlt, Anm. d. Red.].
âMeine einzige Hoffnung fĂŒr China ist die ungehorsame Gesellschaft.â
– Timothy Cheek
Nun, wĂŒrden Sie diese âideologische FĂŒhrungâ dann als ein modernes PhĂ€nomen einstufen? Und wie reagiert die Bevölkerung darauf?
In Bezug auf das 20. Jahrhundert stammt das Credo âeine Partei, eine Ideologie, ein AnfĂŒhrerâ von Sun, aus dem Jahre 1924. Chiang Kai-shek [fĂŒhrender Politiker der Republik China, Anm. d. Red.] erhob denselben Anspruch. Meiner Auffassung nach strebten chinesische Regierungen die von Xi ebenfalls verfolgte ideologische FĂŒhrung schon lange konsequent an. In der Geschichte des modernen China ist sie jedenfalls direkt auf Sun zurĂŒckzufĂŒhren.
Da fragen sich im Westen die Menschen: âOh, sind die Chinesinnen und Chinesen toleranter gegenĂŒber der Diktatur oder benötigen sie einfach nicht so viel persönliche Freiheit?â Nein. Leute in China schĂ€tzen ihre UnabhĂ€ngigkeit und persönliche Freiheit ebenso wie Leute ĂŒberall auf der Welt. Jedoch akzeptieren sie aufgrund der sozialen Gegebenheiten im Land â so viele Menschen in den GroĂstĂ€dten, so viele Menschen auf so engem Raum â, dass es gewisser EinschrĂ€nkungen bedarf. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Leute immer das tun, was von ihnen verlangt wird.
Selbst in der vormodernen Ăra waren die AnsprĂŒche, die die Kaiser der Ming- und Qing-Dynastien erhoben hatten, immer totalitĂ€rer Natur. Zum Beispiel war es gewöhnlichen Leuten fĂŒr einen GroĂteil dieser Zeit verboten, das Land zu verlassen. Und gleichzeitig war es extrem schwierig, nach China einzureisen. Nichtsdestotrotz wanderten wĂ€hrend der Ming-Dynastie Millionen von Chinesinnen und Chinesen aus, besiedelten SĂŒdostasien und trieben Ă€uĂerst erfolgreich Handel mit ihren Landsleuten in China. Und das ungeachtet der von der totalitĂ€ren Zentralregierung auferlegten EinschrĂ€nkungen der Reisefreiheit. Diese ungehorsame Gesellschaft betrachte ich daher als meine einzige Hoffnung fĂŒr China.
Vor dem Hintergrund der totalitĂ€ren oder ideologischen AnsprĂŒche ihrer Regierung haben die gewöhnlichen Leute in China, einschlieĂlich lokaler Beamter, ĂŒberaus geniale und einfallsreichste Wege gefunden, um absurde Vorschriften zu umgehen. Nie zuvor habe ich Leute gesehen, die ihrer Regierung mit so ernster Miene ins Gesicht lĂŒgen. Und darauf vertraue ich weiterhin.
Mao Zedong war als ideologischer AnfĂŒhrer in der Lage, innerhalb der Partei als Mediator zu fungieren und verschiedene Fraktionen zu einem Konsens zu bewegen. Bis zu welchem Grad ist Xi Jinping dazu in der Lage?Â
Die Rolle Mao Zedongs war einzigartig. Er hatte ein beispielloses revolutionĂ€res Charisma, das man sich ungefĂ€hr so vorstellen kann: âWenn Mao mir eine Anweisung erteilt, dann werde ich sie befolgen, selbst wenn sie mir absurd erscheint.â Er konnte die Leute zusammenfĂŒhren. In den frĂŒhen 1950er Jahren navigierte er durch die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei, ohne gröĂere Katastrophen.
Ab 1957 jedoch, nachdem er in der Hundert-Blumen-Bewegung [politische Kampagne, in der zur Kritik an der Partei aufgerufen wurde, 1956-57, Anm. d. Red.] gedemĂŒtigt wurde, sehe ich ihn nicht mehr in der Rolle des Mediators. Meine ErklĂ€rung dafĂŒr ist, dass Macht verdirbt. Er war zu lange der Superstar.
Fehlt Xi aus Ihrer Sicht dieses revolutionÀre Charisma vollkommen?
Absolut. Aber auch Liu hatte sicher nicht dieses Charisma. Er baute seine Macht innerhalb der Partei organisatorisch auf. Ein rational-bĂŒrokratischer Zugang zu ideologischer FĂŒhrung ist nach wie vor eine Form von ideologischer FĂŒhrung. Und in diesem Sinne muss Xi sich einen Namen sichern â jede*r soll sich auf ihn beziehen und alle mĂŒssen ihn zitieren. Aber Xi kopiert Mao, ohne ĂŒber dessen Charisma zu verfĂŒgen.
Interesse geweckt? Möchten Sie mehr ĂŒber die âungehorsame Gesellschaftâ und intellektuelle Stimmen in China erfahren? Hier geht’s zu Teil 2 des Interviews mit Timothy Cheek.
21.10.2020