von Stefan Wackerlig
Kurz bevor sich die Niederschlagung der Proteste auf dem Tian’anmen-Platz vom 4. Juni 1989 zum 30. Mal jährte, verschwand der Singer-Songwriter Li Zhi unerwartet von der Bildfläche und tauchte erst nach über einem Jahr wieder in der Öffentlichkeit auf. Die genauen Umstände bleiben weiterhin unklar.
Am 3. April 2019 gab das Büro für Kultur und Tourismus der Provinz Sichuan bekannt, dass 23 Konzerte des Musikers Li Zhi abgesagt werden mussten. Der Grund: „nicht korrektes Verhalten“. Der Singer-Songwriter Li Zhi war zu diesem Zeitpunkt inmitten seiner „334-Plan“-Tour, die innerhalb von zwölf Jahren Konzerte in allen 334 Städten Chinas auf Verwaltungsebene der Präfektur vorsah und auf diese Weise alternative Live-Musik auch in das China abseits der Metropolen bringen sollte. Li Zhis Management sprach von einer Absage „aus gesundheitlichen Gründen“.
Einige Tage nach der plötzlichen Absage der Tour verschwand auch sämtliche Musik Li Zhis von den gängigsten chinesischen Streaming-Anbietern und seine Social-Media-Auftritte wurden gesperrt. Eine geleakte Zensuranweisung nannte fünf Lieder Li Zhis als Ziel der Zensur. Gemeinsam haben die Songs, dass sie von „politisch sensiblen Themen“ handeln. Drei der Lieder spielen sogar – mehr oder weniger offensichtlich – auf die Ereignisse auf und um den Tian’anmen-Platz im Jahr 1989 an.
„Heute noch ist dieser Platz mein Grab“
Am deutlichsten wird der Bezug auf die Proteste in dem 2007 aufgenommenen „Platz“. Ursprünglich hätte das Lied, das bereits in seinem Titel auf das Tian’anmen-Massaker anspielt, auf dem zweiten Album des Künstlers, „Herr Van Gogh“, erscheinen sollen. Da aber sämtliche Lieder und ihre Texte vor der Veröffentlichung der Zensur unterzogen werden, verwundert es kaum, dass das Album in China letzten Endes in gekürzter Fassung erschien.
Die Studioversion von „Platz“ beinhaltet Samples der damals gefallenen Schüsse und die Stimmen von Protestierenden, die nach Rettungsautos rufen und verzweifelt „Henker!“ und „Banditen!“ schreien. Sie endet mit einer Aufnahme Ding Zilins, die durch ihren Aktivismus in der Gruppe „Tian’anmen-Mütter“ Bekanntheit erlangte. Im Text beschreibt Li Zhi zunächst eine hoffnungsvolle Fahrt auf dem Tretroller und erst mit dem Refrain, in dem er „Heute noch ist dieser Platz mein Grab“ singt, wird endgültig klar, wohin die Reise führt.
Video: Inoffizielles Musikvideo Li Zhi – „Platz“
Quelle: Youtube/Erbad 200
Nichtsdestotrotz konnte sich das Lied auf inoffiziellem Wege verbreiten und Teil von Live-Konzerten Li Zhis werden. Die Setlists werden zwar auch auf sensible Inhalte überprüft, zuständig dafür ist aber stets die jeweilige Lokalregierung vor Ort, die ihre Entscheidung relativ eigenständig auf Basis der vom Interpreten eingereichten Liedtexte trifft.
Kurzes Brevier der Umgehung von Internet-Zensur
Ebenso schwammig verlaufen die Grenzen der Zensur auch im Internet, denn überall, wo es Zensur gibt, wird auf der anderen Seite an Wegen gearbeitet, diese zu umgehen. Als der Name „Li Zhi“ auf den Stichwort-Filter der „Großen Firewall von China“ gesetzt wurde, sprachen die Fans nicht mehr von „Li Zhi“, sondern „Bruder Bi“. Der Kosename bezieht sich auf den Usernamen „lizhizhuangbi“, den Li Zhi zu Beginn seiner Karriere im Sozialen Netzwerk Douban verwendet hatte. Einschlägige Lexika übertragen den Ausdruck „Zhuangbi“ wunderbar als „to act like a pretentious cunt“ ins Englische – eine augenzwinkernd hervorgebrachte Selbstbeschreibung der Rolle des Künstlers auf der Bühne.
All jene, denen „Bruder Bi“ immer noch zu offensichtlich war, verwendeten das ähnlich klingende Wort für „Litschi“ oder das für nicht Eingeweihte ganz nach anonymer Berichterstattung klingende „Einwohner Nanjings, Herr Li“. Kenner*innen war aber spätestens nach der Veröffentlichung des Albums „Ich liebe Nanjing“ im Jahr 2009 klar, dass nur der Herr, dessen nun gesperrter WeChat Account „Nanjing Li Zhi“ hieß, gemeint sein konnte. Einer der ersten Auftritte Li Zhis nach seinem Verschwinden sollte auf dem Donghai-Festival in der Küstenstadt Zhoushan sein, das einen seiner Headliner scherzhaft als „Nanjing ██“ ankündigte.
Auf diese Ankündigung hin stellte ein*e besorgte*r Bürger*in eine öffentliche Anfrage an das Büro für Kultur, Film- und Fernsehen, Tourismus und Sport der Stadt Zhoushan, warum ein Musiker, dessen Verhalten als „nicht korrekt“ gilt, auf dem Festival auftreten darf. Die Behörde antwortete, dass „strenge Kontrollen“ bezüglich der auftretenden Personen, der Lieder sowie deren Inhalten durchgeführt wurden. Zusätzlich dazu seien schriftliche Vereinbarungen getroffen worden, die sicherstellen sollten, dass es bei dem Auftritt nicht zu „inkorrektem Verhalten“ kommen werde. Das Donghai-Festival musste nach einer Taifun-Warnung trotz der erteilten Genehmigung kurzfristig abgesagt werden.
Castingshows und Copyright?
Bevor Li Zhi tatsächlich auf die Bühnen Chinas zurückkehrte, veröffentlichte er 318 Tage nach seinem Verschwinden ein Statement auf Weibo, in dem er festhielt, dass er und sein gesamtes Team das letzte Jahr, fernab sämtlicher Medien, damit verbracht haben „Charakter und Moral zu vervollkommnen“, jetzt aber der „Frühling kommt und Blumen blühen werden“. Er dankte auch seinen Fans für ihr Interesse, wobei er hinzufügt, dass dies auch für „LDN, MH und MBY“ gilt.
Die Akronyme beziehen sich auf Long Danni und Ma Hao, die beide im Management der TV-Produktionsfirma „WAJIJIWA Entertainment“ tätig sind, und den Pop-Sänger Mao Buyi, der bei der von dieser Firma produzierten Casting-Show „The Coming One“ teilgenommen und dabei Li Zhis Hit „Erinnerungen an Zhengzhou“ gecovert hatte.
Li Zhi hatte den dreien vorgeworfen, seine Erlaubnis dafür nicht eingeholt zu haben. Der Konflikt geriet ins Rollen, als Li Zhi auf Weibo Entschädigungen in der Höhe von drei Millionen Yuan (etwa 380.000 Euro) forderte. Nachdem ein Treffen der beiden Parteien zu keiner Einigung führte, endete der Fall vor Gericht, das Li Zhi eine Entschädigung von 20.000 Yuan (etwa 2.500 Euro) zusprach. Nach dieser Entscheidung schien das Thema geklärt zu sein – zumindest von Seiten Li Zhis, der schon zu Beginn betonte, dass es ihm nicht um das Geld, sondern um das Prinzip gehe.
"Das Volk braucht keine Freiheit"
Die Erwähnung der in den Copyright-Streit involvierten Personen führte zu hitzigen Diskussionen im Internet darüber, ob „WAJIJIWA“ nicht doch direkt an dem Verschwinden Li Zhis beteiligt war. Li Zhi selbst verzichtet auf Kommentare zu seiner Zeit abseits der Öffentlichkeit. Bei einem seiner Comeback-Konzerte im August 2020 erklärt er, dass er in den letzten Jahren mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, was das Publikum unter lautem Lachen mit „Wir glauben dir!“-Rufen quittierte.
Wie lange die Auftrittspause tatsächlich eine Zwangspause war, inwiefern der Copyright-Konflikt damit zusammenhing und unter welchen Auflagen sein Comeback in die Öffentlichkeit möglich war, ist und bleibt undurchsichtig. Klar ist aber, dass die für die Genehmigung der Konzerte zuständigen Beamt*innen im Publikum jetzt noch aufmerksamer zuhören werden als bisher. Aber wen soll das schon stören? Li Zhi sang bereits 2006:
„Das Volk braucht keine Freiheit,
das ist die allerbeste Zeit!“
Video: Li Zhi – „Das Volk braucht keine Freiheit“
Quelle: Youtube/Feather Liu