Das mysteriöse Verschwinden des Li Zhi

Konzert von Li Zhi im Zuge seiner "334-Plan"-Tour in Dehong, Yunnan Foto: "2018ćčŽ3月21æ—„ â€œććè‚†èźĄćˆ’â€ć·ĄæŒ” äș‘ć—ćŸ·ćźç«™" von 阿捗ANan. Lizensiert unter CC BY 2.5 / zugeschnitten und retuschiert

von Stefan Wackerlig

Kurz bevor sich die Niederschlagung der Proteste auf dem Tian’anmen-Platz vom 4. Juni 1989 zum 30. Mal jĂ€hrte, verschwand der Singer-Songwriter Li Zhi unerwartet von der BildflĂ€che und tauchte erst nach ĂŒber einem Jahr wieder in der Öffentlichkeit auf. Die genauen UmstĂ€nde bleiben weiterhin unklar.

Am 3. April 2019 gab das BĂŒro fĂŒr Kultur und Tourismus der Provinz Sichuan bekannt, dass 23 Konzerte des Musikers Li Zhi abgesagt werden mussten. Der Grund: „nicht korrektes Verhalten“. Der Singer-Songwriter Li Zhi war zu diesem Zeitpunkt inmitten seiner „334-Plan“-Tour, die innerhalb von zwölf Jahren Konzerte in allen 334 StĂ€dten Chinas auf Verwaltungsebene der PrĂ€fektur vorsah und auf diese Weise alternative Live-Musik auch in das China abseits der Metropolen bringen sollte. Li Zhis Management sprach von einer Absage „aus gesundheitlichen GrĂŒnden“.

Einige Tage nach der plötzlichen Absage der Tour verschwand auch sĂ€mtliche Musik Li Zhis von den gĂ€ngigsten chinesischen Streaming-Anbietern und seine Social-Media-Auftritte wurden gesperrt. Eine geleakte Zensuranweisung nannte fĂŒnf Lieder Li Zhis als Ziel der Zensur. Gemeinsam haben die Songs, dass sie von „politisch sensiblen Themen“ handeln. Drei der Lieder spielen sogar – mehr oder weniger offensichtlich – auf die Ereignisse auf und um den Tian’anmen-Platz im Jahr 1989 an.

„Heute noch ist dieser Platz mein Grab“

Am deutlichsten wird der Bezug auf die Proteste in dem 2007 aufgenommenen „Platz“. UrsprĂŒnglich hĂ€tte das Lied, das bereits in seinem Titel auf das Tian’anmen-Massaker anspielt, auf dem zweiten Album des KĂŒnstlers, „Herr Van Gogh“, erscheinen sollen. Da aber sĂ€mtliche Lieder und ihre Texte vor der Veröffentlichung der Zensur unterzogen werden, verwundert es kaum, dass das Album in China letzten Endes in gekĂŒrzter Fassung erschien.

Die Studioversion von „Platz“ beinhaltet Samples der damals gefallenen SchĂŒsse und die Stimmen von Protestierenden, die nach Rettungsautos rufen und verzweifelt „Henker!“ und „Banditen!“ schreien. Sie endet mit einer Aufnahme Ding Zilins, die durch ihren Aktivismus in der Gruppe „Tian’anmen-MĂŒtter“ Bekanntheit erlangte. Im Text beschreibt Li Zhi zunĂ€chst eine hoffnungsvolle Fahrt auf dem Tretroller und erst mit dem Refrain, in dem er „Heute noch ist dieser Platz mein Grab“ singt, wird endgĂŒltig klar, wohin die Reise fĂŒhrt.

https://www.youtube.com/watch?v=VsXAYoXhQQI

Video: Inoffizielles Musikvideo Li Zhi – „Platz“
Quelle: Youtube/Erbad 200

Nichtsdestotrotz konnte sich das Lied auf inoffiziellem Wege verbreiten und Teil von Live-Konzerten Li Zhis werden. Die Setlists werden zwar auch auf sensible Inhalte ĂŒberprĂŒft, zustĂ€ndig dafĂŒr ist aber stets die jeweilige Lokalregierung vor Ort, die ihre Entscheidung relativ eigenstĂ€ndig auf Basis der vom Interpreten eingereichten Liedtexte trifft.

Kurzes Brevier der Umgehung von Internet-Zensur

Ebenso schwammig verlaufen die Grenzen der Zensur auch im Internet, denn ĂŒberall, wo es Zensur gibt, wird auf der anderen Seite an Wegen gearbeitet, diese zu umgehen. Als der Name „Li Zhi“ auf den Stichwort-Filter der „Großen Firewall von China“ gesetzt wurde, sprachen die Fans nicht mehr von „Li Zhi“, sondern „Bruder Bi“. Der Kosename bezieht sich auf den Usernamen „lizhizhuangbi“, den Li Zhi zu Beginn seiner Karriere im Sozialen Netzwerk Douban verwendet hatte. EinschlĂ€gige Lexika ĂŒbertragen den Ausdruck „Zhuangbi“ wunderbar als „to act like a pretentious cunt“ ins Englische – eine augenzwinkernd hervorgebrachte Selbstbeschreibung der Rolle des KĂŒnstlers auf der BĂŒhne.

All jene, denen „Bruder Bi“ immer noch zu offensichtlich war, verwendeten das Ă€hnlich klingende Wort fĂŒr „Litschi“ oder das fĂŒr nicht Eingeweihte ganz nach anonymer Berichterstattung klingende „Einwohner Nanjings, Herr Li“. Kenner*innen war aber spĂ€testens nach der Veröffentlichung des Albums „Ich liebe Nanjing“ im Jahr 2009 klar, dass nur der Herr, dessen nun gesperrter WeChat Account „Nanjing Li Zhi“ hieß, gemeint sein konnte. Einer der ersten Auftritte Li Zhis nach seinem Verschwinden sollte auf dem Donghai-Festival in der KĂŒstenstadt Zhoushan sein, das einen seiner Headliner scherzhaft als „Nanjing ██“ ankĂŒndigte.

Auf diese AnkĂŒndigung hin stellte ein*e besorgte*r BĂŒrger*in eine öffentliche Anfrage an das BĂŒro fĂŒr Kultur, Film- und Fernsehen, Tourismus und Sport der Stadt Zhoushan, warum ein Musiker, dessen Verhalten als „nicht korrekt“ gilt, auf dem Festival auftreten darf. Die Behörde antwortete, dass „strenge Kontrollen“ bezĂŒglich der auftretenden Personen, der Lieder sowie deren Inhalten durchgefĂŒhrt wurden. ZusĂ€tzlich dazu seien schriftliche Vereinbarungen getroffen worden, die sicherstellen sollten, dass es bei dem Auftritt nicht zu „inkorrektem Verhalten“ kommen werde. Das Donghai-Festival musste nach einer Taifun-Warnung trotz der erteilten Genehmigung kurzfristig abgesagt werden.

Castingshows und Copyright?

Bevor Li Zhi tatsĂ€chlich auf die BĂŒhnen Chinas zurĂŒckkehrte, veröffentlichte er 318 Tage nach seinem Verschwinden ein Statement auf Weibo, in dem er festhielt, dass er und sein gesamtes Team das letzte Jahr, fernab sĂ€mtlicher Medien, damit verbracht haben „Charakter und Moral zu vervollkommnen“, jetzt aber der „FrĂŒhling kommt und Blumen blĂŒhen werden“. Er dankte auch seinen Fans fĂŒr ihr Interesse, wobei er hinzufĂŒgt, dass dies auch fĂŒr „LDN, MH und MBY“ gilt.

Die Akronyme beziehen sich auf Long Danni und Ma Hao, die beide im Management der TV-Produktionsfirma „WAJIJIWA Entertainment“ tĂ€tig sind, und den Pop-SĂ€nger Mao Buyi, der bei der von dieser Firma produzierten Casting-Show „The Coming One“ teilgenommen und dabei Li Zhis Hit „Erinnerungen an Zhengzhou“ gecovert hatte.

Li Zhi hatte den dreien vorgeworfen, seine Erlaubnis dafĂŒr nicht eingeholt zu haben. Der Konflikt geriet ins Rollen, als Li Zhi auf Weibo EntschĂ€digungen in der Höhe von drei Millionen Yuan (etwa 380.000 Euro) forderte. Nachdem ein Treffen der beiden Parteien zu keiner Einigung fĂŒhrte, endete der Fall vor Gericht, das Li Zhi eine EntschĂ€digung von 20.000 Yuan (etwa 2.500 Euro) zusprach. Nach dieser Entscheidung schien das Thema geklĂ€rt zu sein – zumindest von Seiten Li Zhis, der schon zu Beginn betonte, dass es ihm nicht um das Geld, sondern um das Prinzip gehe.

„Das Volk braucht keine Freiheit“

Die ErwĂ€hnung der in den Copyright-Streit involvierten Personen fĂŒhrte zu hitzigen Diskussionen im Internet darĂŒber, ob „WAJIJIWA“ nicht doch direkt an dem Verschwinden Li Zhis beteiligt war. Li Zhi selbst verzichtet auf Kommentare zu seiner Zeit abseits der Öffentlichkeit. Bei einem seiner Comeback-Konzerte im August 2020 erklĂ€rt er, dass er in den letzten Jahren mit gesundheitlichen Problemen zu kĂ€mpfen hatte, was das Publikum unter lautem Lachen mit „Wir glauben dir!“-Rufen quittierte.

Wie lange die Auftrittspause tatsĂ€chlich eine Zwangspause war, inwiefern der Copyright-Konflikt damit zusammenhing und unter welchen Auflagen sein Comeback in die Öffentlichkeit möglich war, ist und bleibt undurchsichtig. Klar ist aber, dass die fĂŒr die Genehmigung der Konzerte zustĂ€ndigen Beamt*innen im Publikum jetzt noch aufmerksamer zuhören werden als bisher. Aber wen soll das schon stören? Li Zhi sang bereits 2006:

„Das Volk braucht keine Freiheit,
das ist die allerbeste Zeit!“

https://www.youtube.com/watch?v=ZNFyceQQVNM

Video: Li Zhi – „Das Volk braucht keine Freiheit“
Quelle: Youtube/Feather Liu