Interview mit Prof. Timothy Cheek – Teil 2 von 2
von Sabine Hinrichs und David Lenz, übersetzt von Sabine Hinrichs
Welche Rolle spielen die Intellektuellen in der modernen chinesischen Gesellschaft? Wie verschaffen sie sich Gehör und wie reagiert die politische Führung? Wir haben uns in einem Interview mit Timothy Cheek über diese Fragen unterhalten und dabei historische Vergleiche kritisch beleuchtet.
Timothy Cheek ist Historiker und arbeitet zur Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und den Intellektuellen in der Volksrepublik. Er ist Leiter des Institute of Asian Research der University of British Columbia und besetzt den Louis-Cha-Lehrstuhl für Chinastudien an der School of Public Policy and Global Affairs.
dasReispapier: In Ihrer Forschung zeigen Sie eine breite Diversität intellektueller Meinungen im heutigen China auf. Wo sehen Sie diese Diversität?
Timothy Cheek: Eines der Hauptmerkmale ideologischer Führung ist, Konformität einzufordern. Und daher haben die Intellektuellen als Teil der ungehorsamen Gesellschaft viele Wege gefunden, um nicht zwangsläufig gegen die Regierung zu handeln, aber sich dennoch ihr eigenes, unabhängiges Denken zu bewahren. Wie erhält man eine gewisse Autonomie, Handlungsfähigkeit (Agency) und eine Stimme in einem System, welches uns totalitär erscheint? Chinesische Intellektuelle sind brillant, wenn es genau darum geht. Zwei Dinge erlauben es den chinesischen Intellektuellen ihre Handlungsfähigkeit zu entfalten und ihre Stimme unter zunehmend totalitären Bedingungen einzubringen: Einerseits ist es die Fähigkeit, mit Exegese zu arbeiten. Unter Mao finden wir Historiker wie Jian Bozan und Wu Han, die diese Technik benutzten. Alle Artikel begannen so, wie sie heute beginnen – mit einer Lobeshymne für die Ideen des Anführers, woraufhin ein Beitrag verfasst wird, zum Beispiel zu Archäologie, und schließlich, am Ende, steht dort: „Und wir lieben den Anführer wirklich sehr.“ Und diese Technik wird nicht nur von chinesischen Intellektuellen verwendet. Für die ungehorsame Gesellschaft ist es wichtig, nach außen hin konform zu handeln und verdeckt das zu tun, was man ursprünglich im Sinn hatte.
Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass es – ebenso wie unter Mao im Jahre 1957 während der Hundert-Blumen-Bewegung [politische Kampagne, in der zur Kritik an der Partei aufgerufen wurde, 1956-57, Anm. d. Red.] – selbst in restriktiven Phasen wie im Moment einige chinesische Intellektuelle gibt, die wissen, sie werden Ärger bekommen und die trotzdem aussprechen, was sie zu sagen haben. Der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo sowie der Avantgarde-Künstler Ai Weiwei sind hier als wichtige Beispiele von Intellektuellen zu nennen, die sich gegen die Partei stellten.
„Es gibt keine Wahlen, daher muss man den Leuten zuhören.“
– Timothy Cheek
Sie sprachen auch davon, wie die Partei-Eliten mithilfe der eigenen Argumente kritisiert werden. Wo würden Sie die Ursprünge dieses Phänomens verorten?
So ziemlich in der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1921. Aber wenn wir von einer etablierten Partei sprechen, die einigermaßen kohärent ist, lokalisieren wir dies normalerweise in der Ausrichtungsbewegung von Yan’an in den 1940er Jahren. Hier schuf Mao das Modell, welches bis heute Gültigkeit besitzt, das Modell der Parteiausrichtung (整风). Sofort schwappte ihm ein großer Schwall parteiinterner Kritik entgegen. Das heißt, diese parteiinterne Kritik hat es immer gegeben, weil es sich dabei um Übungen in Exegese handelt, durch die die politische Debatte sowie politische Unterschiede in einem stalinistischen System ausgedrückt werden. In einem solchen System wirst du einer inkorrekten politischen Linie zugeordnet, wenn du zu direkt bist. Und das bedeutet: du wirst gegrillt. Die ideologische Führung erfordert Expert*innen in Ideologie, und das sind die Intellektuellen.
Ich sage immer zu meinen Studierenden: Wisst ihr, es ist nicht toll, in China Intellektuelle*r zu sein, denn du kannst für das, was du sagst, verfolgt werden. Aber der Grund ist, dass die Partei dem, was Intellektuelle sagen, große Bedeutung beimisst. Im Westen haben wir Freiheit als Professor*innen und Intellektuelle, weil unsere Regierungen uns im Grunde genommen ignorieren.
In anderen Worten handelt es sich hierbei um einen Gesellschaftsvertrag. In diesem politischen sozialen System haben die Intellektuellen einen hohen Stellenwert, aber dies bedeutet auch eine Reihe von Einschränkungen. Und häufig ist das, was wir beobachten, Teil dieses Verhandlungsprozesses (zwischen Staat und Gesellschaft), denn das System verlangt nach neuen Ideen, es braucht Rückmeldungen aus der Gesellschaft. Wenn es keine Wahlen gibt, muss man den Leuten anderweitig Gehör schenken. Und so beginnen diejenigen, die gegen das Regime sind und die es durchaus gibt, damit, die Sprache des Systems für ihre Kritikäußerungen zu verwenden.
In Ihrer Forschung verweisen Sie auf verschiedene intellektuelle Strömungen. Könnten Sie uns mehr über deren Rolle innerhalb der chinesischen Gesellschaft erzählen?
Daran habe ich in den letzten Jahren zusammen mit Kolleg*innen der East China Normal University in Shanghai gearbeitet. Wir haben versucht, unsere Anstrengungen in dem Werk Voices from the Chinese Century (2020) festzuhalten. Noch relevanter ist in diesem Zusammenhang die Webseite Reading the China Dream von David Ownby. In diesen beiden Projekten findet man genau und anschaulich übersetzte Texte von Intellektuellen. Hier werden die Leser*innen so eingeführt, dass sie besser verstehen können, worum es eigentlich geht. Darüber hinaus bin ich sehr stolz auf eine weitere Veröffentlichung, die das Ergebnis eines anderen gemeinsamen Projektes darstellt. Unter dem Titel Mapping the Chinese Intellectual Public Sphere in China Today (2018) finden sich fünf Artikel von jungen Wissenschaftler*innen. Um ein erstes Bild zu bekommen, kann man mit den Neukonfuzianer*innen, den Neuen Linken sowie den Liberalen beginnen. Diese drei repräsentieren jeweils die traditionellen konfuzianischen Werte, die maoistischen Werte und die Werte der Reformära, die unter Deng Xiaoping [chinesischer Führer in den 1980er und 1990er Jahren, Anm. d. Red] entstanden sind.
Selbstverständlich gibt es ein deutlich breiteres Spektrum im intellektuellen Diskurs in China. Dazu zählen auch die Anhänger*innen des Neo-Autoritarismus und die Sozialdemokratie. Aber die drei zuvor genannten Positionen verdeutlichen für Leute außerhalb Chinas zumindest, dass es eine Reihe von grundlegend unterschiedlichen Meinungen gibt, die in China legal zum Ausdruck gebracht werden können. Zumindest war dies bis 2015 oder 2016 der Fall. Was die Gegenwart betrifft, bin ich mir weniger sicher.
Es gibt hochrangige Intellektuelle an den Universitäten Beijings, doch unterscheiden sie sich in einem Punkt grundlegend von jenen aus der Mao-Ära. Unter Mao gehörten diejenigen, die in den wichtigsten Zeitungen veröffentlichten, zum Establishment. Sie wurden vom Staat beschäftigt. Aber jetzt sind es Professor*innen und obwohl die Universitäten letztlich auch dem Staat unterstellt sind, ist es ein Unterschied, ob man Professor*in an der Fudan Universität ist oder ob man an der Akademie für Sozialwissenschaften tätig ist, die mit dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in enger Verbindung steht.
Soweit zu den Intellektuellen des Establishments. Inwieweit wurden andere Teile der Gesellschaft durch den technologischen Fortschritt gestärkt? Welche Auswirkungen hat die technologische Entwicklung auf Kräfte außerhalb des Establishments?
Im Westen ergeht ein Aufschrei: „Wir haben China in die WTO hineingelassen, es hätte sich demokratisieren müssen. Das hat es nicht getan, es hat uns betrogen.“ Aber selbstverständlich hat die chinesische Führung eine solche Zusage nie gemacht und die westlichen Politiker*innen haben dies auch nicht wirklich erwartet. Chinas Beitritt in die WTO und seine Öffnung für internationalen Handel hat nicht zur Demokratisierung Chinas geführt. Es hat China aber globalisiert. Und dieser Vorgang hatte große Auswirkungen auf China. Es ist zum Teil die Globalisierung, auf die Xi reagiert. Zwei markante Beispiele sind Smartphones und soziale Medien. China gibt mehr für seine staatliche Sicherheit aus, um die eigene Bevölkerung zu kontrollieren als uns Außenstehende.
Gleichzeitig gibt es eine gesellschaftliche und technologische Basis für sogenannte Graswurzelintellektuelle [Cheek bezieht hier sich auf solche Intellektuellen, die als Stimmen der lokalen Gemeinschaft auftreten, Anm. d. Red.]. Mit ihren Forderungen stellen die Graswurzelintellektuellen, häufig im lokalen Kontext, die Fürsorge der Regierung für das Wohlergehen der Bevölkerung in Frage. Die neue Orthodoxie unter Xi stellt daher nicht das Wiederaufleben eines übertrieben selbstsicheren Totalitarismus dar, welcher kurzzeitig außer Kraft gesetzt wurde. Es handelt sich vielmehr um eine ängstliche und erschrockene Antwort eines Regimes, welches merkt, dass es die Kontrolle über die eigene Bevölkerung verliert.
„Es gibt zahlreiche Stimmen abseits der Xi-Jinping-Gedanken.“
– Timothy Cheek
Sie haben auf den schwindenden Raum für Intellektuelle hingewiesen. Sehen Sie neue Tendenzen im Umgang der Partei mit den Intellektuellen seit der zweiten Amtszeit Xi Jinpings?
Schauen wir nur darauf, was mit Cai Xia passiert ist. Ich kann meinen Klassenhintergrund nicht ablegen (lacht), ich mag die chinesischen Liberalen, und die sind im Moment ziemlich ruhig. Nehmen wir den Rechtswissenschaftler Xu Zhangrun. Er entschied sich dafür, die Linie zu übertreten und die Partei für ihre Versagen anzuprangern. Er folgt dem Weg Liu Xiaobos. Das ist sehr ehrenhaft, jedoch ist es auch mit einem hohen Preis verbunden. Dein Leben ist schlichtweg zerstört.
Doch die meisten anderen sind äußerlich auf Linie und versuchen nach innen hin Vorschläge einzubringen. Und eines muss uns klar sein: Wenn ich davon spreche, dass sie nur nach außen konform handeln, bedeutet das nicht, dass sie die Legitimität der KPCh grundsätzlich infrage stellen. Sie sind nur nicht damit einverstanden, dass Xi eine dritte Amtszeit plant und ihnen gefällt das verstärkte Durchgreifen nicht. Sie meinen, es ginge auch anders. Und ich denke, die Intellektuellen nutzen ihre Handlungsfähigkeit in erster Linie dazu, das bestehende System weiter anzupassen. Jene, die sich für eine Form von Wahldemokratie aussprechen, gibt es zwar. Viele bezweifeln aber mittlerweile, dass die Wahldemokratie zu einer stabilen Regierung beitragen könne.
Yu Keping [Professor an der Peking-Universität, Anm. d. Red.] beispielsweise hat ein Buch mit dem Titel Democracy is a Good Thing geschrieben. Er vertrat die Auffassung, dass die KPCh mit ihren 80 Millionen Mitgliedern [2019: 91,9 Millionen] zum Kern der echten Demokratie werden könnte, wenn sich die Partei innerlich demokratisieren würde. Nun, das war eine Möglichkeit.
Die andere war die Gegenreformation und ich nenne das, was wir aktuell beobachten, Xi Jinpings Gegenreformation. Eine Rückkehr zur Orthodoxie, wie das Konzil von Trient in der katholischen Kirche. Um eine gute kommunistische Partei zu sein, musst du eben eine solche kommunistische Partei sein, du musst die apostolische Tradition aufrechterhalten. Unter dem Strich gibt es viele unterschiedliche intellektuelle Meinungen abseits der oberflächlichen Xi-Jinping-Gedanken.
China hat in seiner Geschichte immer wieder ausländische Ideen angenommen. Dies könnte aber auch im Konflikt damit stehen, wie chinesische Eliten Chinas Partikularität zu betonen suchen. Gibt es Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren diese Tendenz, China als etwas ganz Besonderes hervorzuheben, und wenn ja, warum?
Nun, dabei geht es um das Neue Tianxia [erneuerte Theorie von „Alles unter dem Himmel“, anlehnend an die Weltsicht des vormodernen China, wonach der Kaiser das Zentrum der Welt darstellte, Anm. d. Red.] und die Betonung der eigenen Partikularität. Ich denke, wenn wir auf Chinas internationale Rolle schauen, müssen wir die USA aus zwei Gründen miteinbeziehen. Einerseits stellen die USA einen Konkurrenten für China dar. Sie sind die dominante Macht, die China von dem Platz in der Welt fernhält, der ihm seiner Ansicht nach rechtmäßig zusteht. Andererseits sind die USA das Vorbild als Weltmacht und, um ehrlich zu sein, halten die USA sich oft nicht an internationale Regeln.
Darüber hinaus ist Chinas Exzeptionalismus als eine Reaktion auf die Herausforderungen von Imperialismus und Verwestlichung zu sehen, mit denen sich China ab Mitte des 19. Jahrhunderts konfrontiert sah. Immer, wenn chinesische Regierungen stark sind, vertreten sie Weltoffenheit, wie während der Tang-Dynastie. Sind sie jedoch schwach, ziehen sie sich zurück in den Zustand der Einzigartigkeit. Daher deute ich die Betonung der Unvergleichbarkeit Chinas als ein Zeichen der Schwäche. Wer seine Unvergleichbarkeit betont, weiß, dass er schwach ist. Wer sich hingegen weltoffen gibt, weiß, bezogen auf die eigene Identität, um seine Stärke.
Im Kontext der Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts betrachtet meinten die USA, sie wären einzigartig, weshalb universelle Regeln nicht für sie zutreffen würden. Deswegen ist das Argument der Unvergleichbarkeit Chinas mehr als ein Produkt geschichtlicher Umstände zu werten als ein Teil des chinesischen Charakters.
„Wir können uns nicht von China lossagen – unsere Schicksale sind miteinander verwoben.“
– Timothy Cheek
Im Zusammenhang mit dem Informationsfluss spielt auch die Fähigkeit, über geografische und ideologische Grenzen hinweg zu kommunizieren, eine wichtige Rolle. Wie bewerten Sie den wissenschaftlichen Dialog zwischen China und anderen Ländern?
Ich schätze diesen Dialog als äußerst wichtig ein. Ein wesentlicher Anteil der Wissenschaftler*innen in den Laboren der University of Columbia in Kanada sind aus China – Doktorand*innen, Forscher*innen, Professor*innen – und sie sind exzellent. Und sie sind keine Spione der Kommunistischen Partei, sie sind Expertinnen und Experten auf ihrem Gebiet, und zwar seit Jahren und Jahrzehnten. Ganz gleich, was wir von der Kommunistischen Partei halten, China gehört zu den großen Zivilisationen dieser Erde.
Was auch die Fehler seiner Regierungen sein mögen, es hat der Bildung stets einen hohen Stellenwert eingeräumt und die Forschung aus China hat immenses Potential. Es ist so unglaublich wichtig, dass der akademische Austausch weitergeht – zwischen Chines*innen, Inder*innen, Menschen von überall. Denn wir alle befinden uns auf demselben sinkenden Boot aufgrund der globalen Klimakrise. Und da ist es schon gut zu wissen, dass eine der großen Mächte den Klimawandel für real hält und denkt, dass dieser nach wissenschaftlichen Antworten verlangt. Hier ist China den USA einen großen Schritt voraus.
Sie haben eben ein ganz wichtiges und dringendes Problem angesprochen, nämlich die schwierigen diplomatischen Beziehungen zwischen China und anderen Staaten. Wir können uns nicht einfach von China lösen. Wir reden hier nicht von der Sowjetunion in den 1980ern – die hat nicht unsere Handys produziert und die hat auch nicht unsere Walmarts befüllt. Aber China tut genau das. Wir meinten, wir könnten China mit dem Lasso einfangen und es an das westliche System binden, während wir eigentlich ebenso an China gebunden wurden. Deswegen sind unsere Schicksale miteinander verwoben. Die Wissenschaft zeigt uns dabei die gute Seite, die aus enger Kooperation besteht. Die chinesischen Wissenschaftler*innen schätzen es, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Hier haben wir eine echte win-win-Situation.
Ihrer persönlichen Einschätzung nach: Wohin geht China?
Nun ja, ich bin Historiker und man kann die Zukunft nicht voraussagen. Aber man kann sicherlich eine Ahnung davon bekommen, was die möglichen Alternativen sein könnten. Struktur ist von Bedeutung, aber auch Handlungsfähigkeit ist wichtig. Und wir haben gelernt, und zwar schmerzhaft mit Blick auf die USA und Großbritannien, dass Führung eine Rolle spielt. In China erwarte ich eine Fortführung der Dialektik zwischen ideologischem Staat und seiner ungehorsamen Gesellschaft – und ich feuere die ungehorsame Gesellschaft an.
21.10.2020