Ende der Armut? Probleme, Aussichten und Big Data

Zeitrafferfotografie Von Blauen Lichtern Foto: "Zeitrafferfotografie Von Blauen Lichtern" von Pixabay. Lizenziert unter CC0

von Katharina Menz

Trotz des am 25. Februar 2021 von Präsident Xi Jinping verlautbarten Meilensteins der Überwindung der extremen Armut bleiben Probleme bestehen. Man bekämpft sie nicht zuletzt mit Big Data, Überwachung und Punktesystemen. Ein Blick in die Zukunft der Sozialhilfe? 

Ein großer Bildschirm mit bunten Grafiken schmückt das Büro für Armutsbekämpfung und Entwicklung der süd-westlich gelegenen chinesischen Provinz Guizhou. Mit Hilfe von Big Data werden hier in Echtzeit Informationen über die Armutssituation der Bevölkerung anzeigt. Die sogenannte Guizhou-Cloud integriert Armutsdaten von 25 Regierungsdepartments und bringt die gezielte Armutsbekämpfung (Teil 1) auf ein neues Level.  

Gezielte Armutsbekämpfung und COVID-19

Seit 2014 bekämpft China die extreme Armut des Landes mit der Kampagne der Gezielten Armutsbekämpfung. Unmittelbar vor der Zielgeraden sollte Anfang 2020 noch ein Stolperstein auftauchen. Der Ausbruch von COVID-19 erschüttert zunächst China und schließlich die ganze Welt. Er hat verheerende Auswirkungen auf die Ärmsten der Weltbevölkerung, denn sie werden von Krisen wie dieser disproportional härter getroffen. Trotz der Pandemie versicherte Präsident Xi im März 2020, dass das Ziel der Ausrottung absoluter Armut im Land weiterhin erreicht werden könne. Das wäre aber nicht das Ende der Anstrengung der Partei, so Xi.

Ein beachtlicher Weg

Der zurückgelegte Weg ist beachtlich. Zu Beginn der gezielten Armutsbekämpfung im Jahr 2014 lebten in China noch über 70 Millionen Menschen unter der offiziellen Armutsgrenze von 2.300 RMB (ca. 220 Euro) verfügbarem Einkommen pro Haushalt pro Jahr. Um die selbstauferlegte Deadline bis Ende 2020 zu erfüllen, mussten jährlich über zehn Millionen Menschen aus der extremen Armut befreit werden. Das sind etwa 30.000 Menschen pro Tag.

13 Provinzen riefen sogar noch ambitioniertere Pläne aus, nämlich das Ende der absoluten Armut innerhalb von zwei oder drei Jahren. Das ist eine für politische Kampagnen übliche Strategie, um die Zentralregierung zu beeindrucken.

Armut auf dem Bildschirm

Beeindruckend ist auch Guizhous Big Data Büro, wo man auf Bildschirme klicken kann und Informationen zu Armutsmetriken der gesamten Provinz erhält. Die Informationen sind so detailliert, dass die Beamt*innen die geografische Lage und die Industriestruktur jedes einzelnen Dorfes und sogar die Wohneinrichtungen, Familienmitglieder und das Einkommen jedes armen Haushalts überprüfen können.

Jobtraining und Ursachensuche mit Big Data

Die in Guizhou zur Armutsbekämpfung umgesiedelten Menschen (bis Anfang 2019 etwa 1,3 Millionen) werden mit Hilfe der gesammelten Informationen des Systems mitverfolgt und bei ihrer Jobsuche und Jobtraining unterstützt. Damit konnte man die durchschnittliche Erwerbsquote pro Haushalt erhöhen.

Das Big Data System kann außerdem Faktoren für die Ursachen von Armut identifizieren, was Hinweise für gezielte Maßnahmen zur Armutsbekämpfung liefert. Das System identifiziert drei Faktoren als Hauptgründe für Armut: fehlende finanzielle Mittel, fehlende Technologien und hohe Kosten für Bildung. Es bietet damit wichtige Einblicke und Grundlagen für das Bekämpfen der extremen Armut.

Anfängliche Zurückhaltung der Parteispitze

Am 23. November 2020 war es schließlich soweit. Guizhou erklärte sich als letzte Provinz für armutsfrei gemäß der gesetzten absoluten Armutsgrenze. Damit war der landesweite Kampf gegen die extreme Armut gewonnen und extreme Armut in China ausgelöscht. Einige chinesische und internationale Medien verlautbarten diesen Sieg.

Doch ganze drei Monate blieb es still um die Parteiführung. Das Ergebnis müsse noch überprüft werden, hieß es seitens der staatlichen Global Times. Dann erst könne das Zentralkomitee der Partei den landesweiten Sieg über die Armut verlautbaren. Die Parteispitze verkündete das Ende der extremen Armut schließlich am 25. Februar 2021.

Peking wollte offenbar sicher gehen, dass unter dem Deckmantel rascher Lösungen nicht doch noch alte Probleme auftauchen. Doch langfristige Fragen bleiben dennoch, denn oft griff man lokal zu kurzfristigen Lösungen.

Langfristige Probleme, kurzfristige Lösungen

Der Druck, das Ziel einer armutsbefreiten Nation rechtzeitig zu erreichen, auf lokaler Ebene war enorm hoch. So stellte man verarmten Familien einmalig Geld zur Verfügung, um das Einkommen über die offizielle Armutsgrenze zu heben. Außerdem sind viele Haushalte in den Dörfern ähnlich arm, weshalb es schwierig war festzustellen, wer Subventionen verdiente und wer nicht. Kader*innen waren daher verleitet, den Armutsstatus nach ihren subjektiven Einschätzungen zuzuweisen. Solche Entscheidungen trafen sie aufgrund verwandtschaftlicher oder sozialer Bindungen, was zu Konflikten und Unzufriedenheit unter den Dorfbewohner*innen führte.

Auch war es nicht ungewöhnlich, dass Kader*innen versuchten, „vorherzusehen“, wo die ausführenden Prüfbeamt*innen als nächstes kontrollierten, um dann speziell in diese Dörfer zu investieren, was zu einer ungleichen Verteilung von Ressourcen zwischen den Dörfern führte. Andere Befürchtungen sind, dass man die Statistiken manipulierte oder dass man die Ärmsten der Ärmsten von einer Unterstützung ausschloss, da sie weniger zum lokalen Wirtschaftswachstum beitragen konnten.

Gezielte Überwachung

Zurück in Guizhou, bietet die hiesige Guizhou-Cloud bereits Lösungsansätze für die Kontrolle der Armutsarbeit vor Ort. Die Plattform basiert auf einem geografischen Informationssystem. Die elektronische Karte seines Vektormodells erstreckt sich auf 16 Ebenen, mit gezielter Überwachung auf Dorfebene. Und es unterstützt stichprobenartige Inspektionen von entsprechenden Projekten überall und jederzeit.

Gefahr der erneuten Armut

Dennoch besteht die Gefahr, dass Familien in Zukunft in die extreme Armut zurückrutschen oder in relativer Armut verharren. Denn selbst wenn China die absolute Armut effektiv überwindet, verbleiben die entlasteten Menschen weit abgeschieden vom urbanen Rest der Gesellschaft an der chinesischen Ostküste, abgeschnitten vom sozialen Aufstieg ihrer städtischen Landsleute. Daher muss genau dort, wo China die extreme Armut besiegt hat, der gravierenden Ungleichheit Einhalt geboten werden.

Ein Land der Ungleichheiten

China ist nicht nur hinsichtlich seiner Vermögens- und Einkommensverteilung ein Land hoher Ungleichheiten, sondern auch der Zugang zu Sozialleistungen und Bildung weist ein Stadt-Land-Gefälle und Diskrepanzen zwischen Osten und Westen auf. Trotz einiger Anstrengungen seitens der Regierung, hat sich in den letzten Jahren zumindest die Einkommensungleichheit in China nicht verringert.

Der nationale Gini-Index verfügbaren Einkommens steigt stetig seit 2015 (2015: 46,2; 2016: 46,5; 2017: 46,7; 2018: 46,8) und auch die chinesischen Spitzeneinkommen gemessen am Gesamteinkommen stiegen laut zuletzt verfügbarer Daten im Jahr 2015. Das bedeutet, dass die Kluft zwischen reicheren und ärmeren Haushalten größer wird, was es der ländlichen Bevölkerung erschwert, aufzuholen. 

Mehr Big Data? Und Künstliche Intelligenz?

Womöglich könnte der Einsatz von Big Data Systemen nicht nur in Guizhou, sondern auch in anderen Regionen in dem Aufholprozess der Ärmsten eine Rolle spielen. Big Data ist auch außerhalb Guizhous in der gezielten Armutsbekämpfung nicht neu. Bereits 2016 verlautbarte die State Council Leading Group Office of Poverty Alleviation and Development eine Innovation in der Beaufsichtigung der gezielten Armutsbekämpfung. Diese sammelt und vernetzt Informationen über Prozesse, Haushalte und Kader*innen und vereinfacht die top-down-Kontrolle.

Neben Big Data spricht man in Guizhou ebenfalls von Cloud-Computing und Internet+ in der Armutsbekämpfung. Auch von Künstlicher Intelligenz (KI) erstellte Algorithmen seien Teil der Datenanalyse, heißt es in den Staatsmedien. Man experimentiert vielerorts mit neuen Technologien. In der Provinz Anhui gibt es bereits eine ähnliche Daten-Plattform zur gezielten Armutsbekämpfung und in der Provinz Gansu hilft man sich mit Live-Streaming zum Produktverkauf. Potentielle Interessent*innen werden durch eine KI für den Live-Stream ausgewählt. Die Verkäufe in den zehn Gansuer Counties verachtfachten sich laut Medienbericht.

Betrug vorbeugen und Nachverfolgung

Big Data Systeme haben sich als effizient erwiesen, Irregularitäten, Probleme und Betrug aufzudecken. So wurden in der Provinz Hubei mit Hilfe dieser Systeme innerhalb von vier Monaten etwa 430.000 Fälle von Korruption nachgewiesen, die Geldmittel von über 600 Millionen RMB (78 Millionen Euro) an unrechtmäßig beanspruchten Subventionen involvierten. Big Data und andere Technologien werden wohl auch künftig zum Einsatz kommen, etwa bei der Nachverfolgung armutsbefreiter Haushalte. Die an der Grenze zur extremen Armut lebenden Menschen benötigen weiterhin Unterstützung, daher benötigt man ein System der Nachverfolgung. Auch Xi meinte im März 2020, es gelte, „falsche“ Armutsbefreiung aufzudecken (虚假脱贫). In Guizhou hat man hier bereits Erfahrung.

Ein Punktesystem

Die Guizhou-Cloud verwirklicht bereits seit ihrem Start 2015 eine diversifiziertere Messung von Armut und eine Art der Armuts-Nachverfolgung. Basierend auf 84 Indikatoren vergibt sie Punkte zur Armutslage armutsbetroffener Haushalte. Erhält ein Haushalt unter 60 Punkte, wird er als absolut arm eingestuft. Zwischen 60 und 80 Punkte bedeutet eine Gefahr, zurück in die Armut zu rutschen. Haushalte mit einem Wert über 80 werden als definitiv armutsbefreit deklariert. Die Guizhouer Verwaltung zieht also nicht nur bereits mehrere Indikatoren, anstatt nur einer einkommensbasierten Armutsgrenze, zu Rate, sondern hat mit ihrem Punktesystem eine Art Nachverfolgungssystem geschaffen.   

Ein Blick in die Zukunft

Obwohl nicht überall Big Data drin sein muss, wo es draufsteht, sind Chinas gezielte Armutsbekämpfung und seine digitalen Vorgehensweisen einzigartig und zeigen einen Weg in eine Zukunft der Armutslinderung und Sozialhilfe auf. Die Staatsmedien berichten zwar von Erfolgen ihrer neuen fortschrittlichen Technologien, aber erst die Zukunft wird zeigen, wie effizient diese Technologien im Kampf gegen die verbleibende Armut und Ungleichheit wirklich sind und welche Probleme sich noch in ihr verbergen.

Der erste Teil der Serie „2021: Das Ende extremer Armut in China?“ ist ebenfalls auf  dasReispapier nachzulesen!