Essay von
Alfred Gerstl
Der Spruch des Internationalen Schiedshofes über den Streit zwischen den Philippinen und China hat weitgehende Folgen für die Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer. An einer diplomatischen Lösung führt jedoch kein Weg vorbei – sie liegt im Interesse aller Beteiligten.
Wieder einmal fühlt sich eine Großmacht ungerecht behandelt. Nein, man habe das Völkerrecht nicht verletzt, man stehe völlig zu Unrecht am Pranger des Westens, der einem ein Territorium streitig machen wolle, das einem seit Jahrhunderten gehöre. Zudem unterstützten zahlreiche nicht-westliche Regierungen und Expertinnen die eigene Position. Die Argumentation erinnert an jene Russlands in der Krim-Krise, doch diesmal wird sie von China vorgebracht.
Am 12. Juli 2016 hat der Internationale Schiedshof in Den Haag einen lange erwarteten Schiedsspruch im von den Philippinen gegen China anhängig gemachten Disput im Südchinesischen Meer getroffen. Das detaillierte und sehr umsichtig begründete Urteil ist eine Fundgrube für Völkerrechtlerinnen, Historikerinnen und Vertreterinnen der Internationalen Beziehungen.
Völkerrechtlich und politisch ist es deshalb so bedeutsam, weil erstmals eine unabhängige juristische Instanz das Seerechtsübereinkommen in Bezug auf das Südchinesische Meer näher interpretiert hat.
Ein Streit um Seewege, Bodenschätze und Fisch
Die Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer mit seinen hunderten kleinen Inseln, Riffen, Felsen, Atollen und Sandbänken sind zwischen China, Taiwan, Brunei, Malaysia, den Philippinen und Vietnam umstritten. Das Meer bedeckt eine Fläche von 3,5 Millionen Quadratkilometern. Zum Vergleich: Das Mittelmeer umfasst etwa 2,5 Millionen Quadratkilometer.
Das Südchinesische Meer ist ein zentraler Seeweg zwischen Ostasien, dem Mittleren Osten und Europa. Die Freiheit der Schifffahrt zu garantieren, ist daher ein wesentliches Anliegen für die Weltgemeinschaft – vor allem für die USA. Weiters bedeutsam ist das Südchinesische Meer aufgrund der vermuteten Öl- und vor allem Gasreserven sowie der reichen Fischgründe.
Die bis Ende Juni 2016 amtierende Regierung Benigno Aquinos III. hatte das Verfahren im Jänner 2013 unter Berufung auf die 1994 in Kraft getretene Seerechtskonvention UNCLOS angestrengt – gegen prononcierten Widerstand aus Peking. Zwar hat China von Anfang an klargestellt, dass es das Verfahren für einen politischen und illegitimen Prozess hält, weshalb es sich nicht daran beteiligte. Dennoch erklärte sich der Schiedshof zuständig und ernannte einen unabhängigen Rechtsexperten, der Chinas Position vertreten sollte.
Trotz seiner Ablehnung veröffentlichte China im Dezember 2014, kurz vor dem Ablauf einer offiziellen Verfahrensdeadline, ein Positionspapier. Darin bekräftigte es seine von der durch neun Striche markierten U-Linie abgegrenzten Ansprüche: bis zu 90 Prozent des Südchinesischen Meeres. Für China wäre es jedoch besser gewesen, sich direkt am Verfahren zu beteiligen, hätte es doch so seine Argumente einbringen und unmittelbar auf Gegenargumente reagieren können. Vietnam wiederum reichte beim Schiedshof ein Positionspapier ein, in dem es darum bat, die eigene Position zu berücksichtigen. Vietnam wurde trotz Ansprüche auf die gesamten Paracel- und Spratly-Inseln nicht offiziell Klagepartei – der Druck aus Peking war zu hoch.
Keine Inseln in der Spratly-Gruppe
Die Klage der Philippinen war argumentativ äußerst geschickt formuliert. Sie umfasst 15 Punkte, die sich in fünf große Bereiche einteilen lassen. Für 14 Punkte sah sich der fünfköpfige Schiedshof zuständig. Souveränitätsfragen waren nicht Gegenstand der Klage, da diese nicht von der Seerechtskonvention abgedeckt werden.
Das wichtigste Ergebnis des Spruchs: China hat keinen Anspruch auf die von der sogenannten U-Linie umfassten Meeresressourcen. Die von China geltend gemachten „historischen Rechte“ fänden in UNCLOS keine Entsprechung. Entscheidend sei hingegen das von der Konvention eingeführte Konzept einer 200 nautischen Meilen breiten Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ). Einfach gesagt: ohne Landbesitz, sei es das ans Meer grenzende Festland oder eine Insel, keine AWZ.
Die Zurückweisung der U-Linie war erwartet worden. Ebenso, dass von China künstlich aufgeschüttete Inseln keine eigene AWZ rechtfertigen. Entscheidend, ob diese Landformationen eine zwölf oder 200 Meilenzone besitzen, ist ihr ursprünglicher Status als Felsen (zwölf) oder Insel (200 Meilen).
Ein Urteil mit weitreichenden Folgen
Eher überraschend war der Spruch, dass keine einzige Landformation in der Spratly-Gruppe rechtlich eine Insel ist, nicht einmal die größte, von Taiwan besetzte Landformation Taiping (Itu Aba), wo Süßwasser fließt. Auch die Spratlys in ihrer Gesamtheit besitzen keine 200 Meilenzone. Somit steht einzelnen Felsen eine maximal zwölf Meilenzone zu. Dieser Spruch hat auch einen direkten Einfluss auf die seit 1974 von China besetzte, zwischen China, Vietnam und Taiwan umstrittene Paracel-Gruppe: Gibt es dort Inseln oder auch nur Felsen, Riffe und Atolle?
Souveränitätsfragen wurden zwar nicht verhandelt, doch schlussfolgerte das Gericht logisch, dass die zwischen China und den Philippinen umstrittenen Riffe Mischief-Riff und Second Thomas Shoal den Philippinen gehören, da sie auf dem philippinischen Festlandsockel liegen und weil China – ohne Inseln mit eigener AWZ – keine überlappenden Gebietsansprüche geltend machen könne.
Da China Riffe innerhalb der philippinischen AWZ okkupiert und teilweise aufgeschüttet hat, hat es laut Schiedshof die philippinische Souveränität verletzt. Letzteres auch dadurch, dass es den Ressourcenabbau und Fischfang durch die Philippinen behindert habe. Zudem habe die Aufschüttung der künstlichen Inseln die Umwelt schwer geschädigt.
Zurückhaltende Philippinen
Der Schiedshof hat den Philippinen damit überraschend weitgehend Recht gegeben. Während die chinesische Politik und Diplomatie erbost und ablehnend reagierte, nahmen die Philippinen den Spruch zwar erfreut, aber ohne Euphorie zur Kenntnis: China sollte nicht unnötig gereizt werden. Der neue Präsident Rodrigo Duterte, innenpolitisch ein Hardliner, hat überraschend bilaterale Gespräche auf das Tapet gebracht, sollte sich in absehbarer Zeit keine andere Lösung abzeichnen. Damit rückt er von der traditionellen Position der Philippinen und der anderen drei südostasiatischen Anrainer Malaysia, Vietnam und Brunei ab. Zuletzt gab es jedoch unterschiedliche Ansichten über die Haltung des bruneiischen Sultanats. Bislang wollten auch die Philippinen die Territorialstreitigkeiten nur multilateral, in Verhandlungen zwischen der Assoziation südostasiatischer Nationen (ASEAN) und China lösen.
Positive Dynamik möglich
Der Schiedsspruch vom 12. Juli 2016 ist zwar bindend, doch verfügt der Schiedshof über keine Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber China. Gelten für Großmächte, die das Völkerrecht verletzen, andere Regeln? Prinzipiell nicht. Aber man darf die Realpolitik nicht ausblenden: Es ist nicht möglich, China mit Zwang oder Sanktionen zur Respektierung des Spruchs zu verpflichten. Realpolitisch muss man ihm Entgegenkommen signalisieren und ihm die Chance geben, freiwillig Kompromisse einzugehen.
Provokationen – ob von China oder anderen Staaten ausgelöst – würden den Konflikt nur weiter befeuern. Denn China ist nicht die einzige intransigente Partei; Nationalismus und antichinesische Stimmungen, die den Verhandlungsspielraum einschränken, sind besonders in Vietnam und den Philippinen stark. Gefordert ist also nicht nur China.
Der Schiedsspruch kann eine wichtige positive Dynamik auslösen. Das Urteil bietet nun sämtlichen Anrainern die Chance, die rechtliche Basis ihrer Ansprüche zu überdenken und allenfalls neu zu begründen. China hat bereits erste Schritte gesetzt: Am 13. Juli veröffentlichte das Informationsbüro des Staatsrates ein Weißbuch, in dem es sich laut Andrew Chubb argumentativ von den „historischen Rechten“ weg- und zu UNCLOS hinbewegt. Auch wenn China inhaltlich auf seinen Territorialforderungen beharrt (Nanhai Zhudao), so ist die Stellungnahme doch insgesamt in einem versöhnlicherem, verhandlungsoffenerem Ton als zuvor geschrieben.
Mit dem Schiedsspruch liegen also wichtige Leitplanken für denkbare weitere Gerichts- und Schiedsverfahren, aber auch Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien vor. Letztere sind entscheidend, um die Territorial- und Souveränitätsstreitigkeiten zu lösen: Eine ausschließlich völkerrechtliche Regelung ist nicht unmöglich – es gibt ausreichend Vorbilder. Im Falle des Südchinesischen Meeres jedoch ist sie illusorisch. Es müssten nämlich sämtliche Streitparteien einem Verfahren zum Abstecken der Grenzen zustimmen und anschließend die Entscheidungen des Gerichts umsetzen, welche direkt in die nationale Souveränität eingreifen.
Realpolitik, Provokationen und fehlendes Vertrauen
An einer politischen Einigung für eine dauerhafte Lösung führt somit kein Weg vorbei. Ein Forum für diese existiert bereits: ASEAN. Doch die seit 2002 geführten Verhandlungen zwischen ASEAN und China über einen bindenden Verhaltenskodex im Südchinesischen Meer, um das politische Abkommen aus dem gleichen Jahr zu konkretisieren, haben bislang noch keine handfesten Resultate gebracht. Um seine Position – bi- statt multilaterale Verhandlungen unter den Anrainern – zu stärken, hat China in den letzten Jahren geschickt den ASEAN-Konsens, das Einstimmigkeitsprinzip, untergraben. Es nutzte dafür seinen erheblichen wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf Kambodscha und Laos, das 2016 den ASEAN-Vorsitz innehat.
Generell hat China seit 2009 wenig Perspektiven geboten, die Territorialstreitigkeiten in Verhandlungen zu lösen. Seine Politik schuf wenig Vertrauen bei seinen südostasiatischen Nachbarstaaten.
Folgen der chinesischen Strategie
Da sich die Philippinen und Vietnam von China provoziert fühlten und mit der aus ihrer Sicht fehlenden robusten Unterstützung durch ASEAN im Disput mit China unzufrieden waren, mussten sich die Philippinen und Vietnam aus realpolitischer Warte zwangsläufig andere Strategien und Partner suchen. Beide reagierten mit einer dualen Internationalisierungsstrategie, wobei die sicherheitspolitische Komponente jeweils eine Säule ausmacht.
Bei Vietnam, das geschickt ein militärisches Abschreckungspotenzial gegenüber China aufbaut, ist sie stärker ausgeprägt als bei den militärisch relativ schwachen Philippinen. Beide haben ihre Kooperation mit den USA und Japan massiv ausgebaut. Auch Indien und Australien werden immer bedeutendere Akteure.
Im Falle der Philippinen ist die zweite Säule die internationale juristische Streitbeilegung, im Falle Vietnams eine Instrumentalisierung der ökonomischen, vor allem energiepolitischen Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern, in Form von Vergaben von Förderlizenzen im Südchinesischen Meer.
China hat damit nolens volens gerade jene Entwicklungen angestoßen, die es zu verhindern versuchte: eine Internationalisierung und Militarisierung des Konflikts im Südchinesischen Meer sowie eine strategische Aufwertung der USA, Japans und Indiens für die meisten südostasiatischen Nationen.
Doch die Internationalisierungsstrategie erhöht die Sicherheit Vietnams und der Philippinen nur bedingt: Im Falle einer Eskalation könnten die beiden Mittelmächte rasch als Zauberlehrlinge dastehen, welche die Geister, die sie riefen, nur begrenzt beeinflussen können, da diese eigene nationale Interessen verfolgen.
Gemeinsames Interesse an friedlicher Lösung
Angesichts dieser potenziell bedrohlichen Situation sollten alle direkt und indirekt involvierten Mächte Interesse an einer friedlichen Verhandlungslösung besitzen. Nicht zuletzt China. Denn gerade jetzt benötigt es das Vertrauen seiner Nachbarn. Sein „friedlicher Aufstieg“ und das Megaprojekt der land- und meeresbasierten Seidenstraßen, welche durch Südostasien und das Südchinesische Meer führen, lassen sich doch nur durch Zusammenarbeit, nicht durch hegemoniale Machtspiele, verwirklichen.