Von Qing Qing
Für die Entdeckung eines Wirkstoffes gegen Malaria erhielt mit Tu Youyou erstmals eine Chinesin den Nobelpreis in einer naturwissenschaftlichen Kategorie. Es ist die späte Anerkennung einer Leistung chinesischer Wissenschafterinnen. Doch die Kritik an der Entscheidung des Nobelpreiskomitees ist laut.
Als am 5. Oktober 2015 die Namen der Medizin-Nobelpreisträgerinnen verkündet wurden, erklang ein lauter Aufschrei in China. Die Überraschung hätte nicht größer sein können: Zum ersten Mal wird ein Nobelpreis aus den naturwissenschaftlichen Kategorien an eine chinesische Staatsbürgerin verliehen. Sie wurde für die Entwicklung von Artemisinin, einem Wirkstoff gegen Malaria, geehrt.
Kritik an der Entscheidung des Nobelpreiskomitees
Allerdings erklangen die meisten Jubelrufe von jenen, die den Namen Tu Youyou noch nie zuvor gehört hatten. Geschwängert von Nationalstolz erklärten von der Durchschnittsbürgerin bis hin zum Premierminister Li Keqiang, dies stelle einen großartigen Sieg für die traditionelle chinesische Medizin (TCM) dar. In der Wissenschaftssphäre jedoch, und insbesondere unter denen, die mit Tus Arbeit vertraut waren, war der Aufschrei großteils von Empörung geprägt.
Die Entscheidung des Nobelkomitees ist auch unter Forscherinnen außerhalb Chinas, die sich umfassend mit Artemisinin auseinandergesetzt haben, umstritten. Keith Arnold, der erste westliche Forscher, der das Potenzial des Mittels erkannte und bis heute damit arbeitet, gehört zu denen, die mit der Entscheidung des Nobelkomitees nicht einverstanden sind. Der Tropenmediziner war in den 1970er Jahren an der Entwicklung von Mefloquin, besser bekannt unter dem Markennamen Lariam, dem Konkurrenzwirkstoff des US-amerikanischen Militärs beteiligt; 1979 wurde er nach China entsandt um die Effizienz der beiden Mittel zu vergleichen und wurde von der Überlegenheit des chinesischen Medikaments zutiefst beeindruckt. In einem Interview mit dem Radiosender NPR sagte er, dass viele Wissenschaftlerinnen, so wie er selbst, die die Geburtsstunde des Mittels miterlebt haben, diese Auszeichnung als Hohn auf die Gerechtigkeit betrachten.
Der Hauptgrund für die Kritik liegt darin, dass Artemisinin aus einer landesweiten Zusammenarbeit von hunderten von Forscherinnen in Mitten der Wirren der chinesischen Kulturrevolution (1966-1976) entstanden ist.
Projekt 523: keine Einzelleistung
1967 bat der vietnamesische Staatsführer Ho Chi Minh China um Hilfe, da im Vietnamkrieg auf Grund von Chloroquin-Resistenzen mehr Soldaten durch Malaria als durch Kampfhandlungen außer Gefecht gesetzt wurden.
Mao Zedong leitete daraufhin das geheime Projekt 523 ein, Wissenschaftlerinnen im ganzen Land begannen mit der Suche nach neuen chemischen Substanzen und gleichzeitigen Recherche nach traditionellen Heilmitteln für eine der ältesten Plagen der Menschheit. Sie arbeiteten heimlich in Kellern und unter prekären Lebensbedingungen, da sie als Intellektuelle den Angriffen der Rotgardistinnen ausgesetzt waren.
Die Medizinerin Tu Youyou wurde 1969 für das Unterfangen rekrutiert. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 40.000 verschiedene Substanzen getestet worden, darunter auch Qinghao (Artemisia annua), der pflanzliche Lieferant der späteren Wunderwaffe.
Die Forscherinnen übersahen zunächst das Potenzial dieses wildwachsenden Krautes, zu dessen Gattung der Beifuß auch gehört. Sie töteten durch eine falsche Extraktionsmethode die aktiven Moleküle ab und konnten so keine Wirksamkeit nachweisen. In den alten Schriften von Ge Hong (283-343), einem der berühmtesten medizinischen Gelehrtinnen der chinesischen Geschichte, entdeckte Tu jedoch eine Beschreibung der Kaltextraktion, was ihre Teamkollegin Zhong Yurong daraufhin effektiv erprobte. Allerdings stellte sich das von ihrer Gruppe produzierte Artemisinin als ineffektiv bei Menschen heraus. Basierend auf ihrer Arbeit gelang es erst einem Team in Yunnan unter der Leitung von Luo Zeyuan den Wirkstoff so aufzubereiten, dass Li Guoqiao, der Gruppenleiter in Guangzhou, 1974 erfolgreiche klinische Versuche an Menschen durchführen konnte.
Tu Youyou spielte in diesem ganzen Prozess eine wichtige Rolle, aber ihre Forschung begann erst 1969. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie bereits auf die Ergebnisse der Vorarbeit ihrer Kolleginnen zurückgreifen. Genauso wurden den Teams in Guangzhou und Yunnan durch ihre Entdeckung möglich, den Wirkstoff weiterzuentwickeln. Ihre Person ist auch deshalb so umstritten, weil Tu selbst in der Vergangenheit nur sehr unwillig ihre Teamkolleginnen und die Leistung anderer Teams würdigte und auch nicht am Kampf für die globale Zulassung von Artemisinin als Malaria-Medikament beteiligt war.
Li Guoqiao hingegen arbeitet seit den 1970ern ununterbrochen an der Weiterentwicklung des Wirkstoffs. Durch seine klinischen Versuche konnte er die Effizienz des Medikaments erheblich steigern und dadurch Malaria-Epidemien in Südostasien und Afrika eindämmen. Viele seiner Kolleginnen, wie Keith Arnold oder Nick White, einem der einflussreichsten Malariaforscherinnen weltweit, sind der Meinung, dass wenn eine Person die Ehrung verdient hätte, er es sei.
Li allerdings ist frohen Mutes, er freut sich über das neugewonnene Medieninteresse an Artemisinin. Auch im Alter von 80 Jahren und nach zwei Schlaganfällen engagiert er sich noch im Kampf gegen die Plasmodium-Parasiten, die jährlich über eine Million Menschen töten.
Eine Entscheidung mit 30 Jahren Verspätung
Dieses globale Interesse war keineswegs leichtgewonnen – vom ersten Wirksamkeitsnachweis dauerte es 30 Jahre bis die Weltgesundheitsorganisation WHO ihre Empfehlung für Artemisinin abgab, obwohl sich in den 1980er Jahren der Malariaparasit rasant Resistenzen gegen damals angewandte Medikamente wie Chloroquin entwickelte. In Subsahara-Afrika verdoppelte bis verdreifachte sich die Mortalität, so dass die Krankheit jährlich ein bis zwei Millionen Menschen dahinraffte.
Einzelne Länder, wie Guyana, die vor der internationalen Zulassung mit chinesischen Ärztinnen kooperierten und Malaria erfolgreich mit Artemisinin bekämpfte, mussten ihre Zusammenarbeit wieder einstellen, nachdem die WHO ihnen ihre Hilfsleistungen entzog.
Die Weltgesundheitsorganisation änderte ihre Haltung erst 2004 auf wachsenden Druck einer Kampagne von Ärzte ohne Grenzen, die die internationale Gemeinschaft mit dem Fakt, dass alle 30 Sekunden ein Kind an Malaria starb, wachzurütteln versuchte. Expertinnen in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet bezeichneten das Ignorieren der Wirksamkeit von Artemisinin als „medical malpractice“ (gewissenloses Praktizieren). Erst daraufhin subventionierte die WHO ein von Novartis in chinesischer Zusammenarbeit hergestelltes Artemisinin-Kombinationspräparat und machte es so in Afrika verfügbar.
Warum es so lange gedauert hatte, lag wohl an dem gegenseitigen Misstrauen zwischen China und der westlichen Welt in der Phase des Kalten Krieges und an Chinas Rückständigkeit in Bezug auf internationale Qualitätsstandards in der Produktion. Li Guoqiao, der 1981 bei der ersten internationalen Artemisininkonferenz in China seine Forschungsergebnisse vortrug, berichtete, dass sie bereits damals so weit gewesen wären, die beiden Artemisininderivate Artesunat und Artemether als Medikamente auf den Markt zu bringen. Aber die chinesischen Fabriken genügten den Anforderungen der WHO-Inspektorinnen nicht und so verzögerte dieser Anpassungsprozess die Zulassung um drei Jahrzehnte.
Vielen Wissenschafterinnen fiel es auch schwer zu glauben, dass es dem rückständigen, kommunistischen China gelang, ein effektives Malariamittel aus einem Unkraut zu gewinnen, das noch dazu auf einem Rezept aus der traditionellen chinesischen Medizin beruhte, während die US-amerikanische Forschung nach dem Austesten von 250.000 Substanzen nur mit Mefloquin aufwarten konnte, einem mittlerweile nachweislich neurotoxischen Wirkstoff, der u. a. für Amokläufe von US Soldaten in Afghanistan verantwortlich war.
Bei der aktuellen Diskussion um Tu Youyous Nobelpreis wird dieses 30-jährige Versäumnis komplett außer Acht gelassen. Dabei kostete dieser Konkurrenzkampf zwischen „Ost und West“ dutzende Millionen von Menschenleben und dauert bis heute an. Westliche Medien und die WHO begegnen Chinas Malaria-Hilfe in Subsahara-Afrika nach wie vor mit Misstrauen. Gleichzeitig legen sie einen Mantel des Schweigens um Praktiken westlicher Pharmafirmen, die politischen Druck auf afrikanische Regierungen erzeugen, wenn ihre Monopolstellung gefährdet wird.
Weiterführende Literatur:
> Meier zu Biesen, C. (2013): Globale Epidemien – lokale Antworten. Eine Ethnographie der Heilpflanze Artemisia annua in Tansania. Frankfurt/New York: Campus Verlag.