Reportage
von Mark-Stephan Kolesik
Wie fast jeden Morgen wache ich mit schrecklichen RĂŒckenschmerzen und einem steifen Nacken auf. Das liegt aber nicht daran, dass ich nun bereits seit ĂŒber einem Monat auf einer hauchdĂŒnnen Matratze am Boden schlafe. Vielmehr zeigen mir diese Schmerzen, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben tagtĂ€glich beinharte körperliche Arbeit verrichte. Als ich Anfang September in Sanan ankam, dachte ich nicht, dass mir das sĂŒdkoreanische Landleben so zu schaffen machen wĂŒrde. Ich ahnte aber auch nicht, dass dieses kleine, von der Konsumwelt der kapitalisieren Gesellschaft SĂŒdkoreas weitgehend abgeschnittene Dorf mein Leben so nachhaltig verĂ€ndern wĂŒrde.
Gespannt stehen wir neben der Einfahrt des Dorfes. Wir, das sind drei Generationen und eine automatische Desinfektionsanlage fĂŒr Autos, welche die Farm vor dem Eindringen gesundheitsgefĂ€hrdender Keime schĂŒtzen soll. âWann kommt er denn?â fragt Yoon Seong-yeol, der Ălteste unter uns, ungeduldig. âMalte sollte bald da sein. Deutsche sind doch immer pĂŒnktlichâ antwortet Okjin, eine junge Koreanerin, die mit mir gemeinsam im Dorf arbeitet. In der Ferne sehen wir ein Motorrad die kurvigen, vom Regen aufgeweichten StraĂen in unsere Richtung kommen. Das Motorrad kommt vor der Desinfektionsanlage zum stehen. Malte, ein deutscher Journalist aus Seoul, steigt ab und begrĂŒĂt uns, noch bevor wir ein Wort sagen können. âDu bist also Mark? Ich werde dich heute bei deiner Arbeit im Dorf begleiten.â Malte war gerade erst angekommen und hatte bereits nur eines im Kopf: Arbeit. âTypisch Deutschâ, dachte ich.
FĂŒr Seong-yeoul ist der Besuch eines Reporters in Sanan keine Neuheit mehr. Seit er gemeinsam mit anderen Familien vor 25 Jahren das Dorf Sanan erbaut hat, kommen viele Menschen, die den ungewöhnlichen Lebensstil der Bewohner mit eigenen Augen sehen wollen. Die kleine Gemeinschaft hat sich von der koreanischen Konsumgesellschaft losgesagt, um nun möglichst ressourcensparend, und im Einklang mit der Natur zu leben. Sie bestreiten ihren Unterhalt durch den Verkauf von Bio-Eiern, welche jeden Tag in den dorfeigenen HĂŒhnerstallungen von Arbeitern und Freiwilligen eingesammelt werden. Diese werden anschlieĂend im Handel mit Dörfern aus der Umgebung gegen andere Lebensmittel getauscht. Die Dorfgemeinschaft nahm die heute immer beliebter werdende ökologisch verantwortliche Lebensweise bereits in den 1980er Jahren ernst, als man das Dorf etwa 50 Kilometer sĂŒdlich der Hauptstadt Seoul aufbaute. Man geht diesen Weg so konsequent, dass selbst die Toiletten ohne WasserspĂŒlung funktionieren.
FĂŒr mich Ă€ndert Maltes Besuch nichts an meinen Verpflichtungen. Insgesamt 30.000 Hennen und HĂ€hne warten darauf, gefĂŒttert und gepflegt zu werden. FĂŒr etwa 10.000 davon bin ich verantwortlich. Am Tag wird zwei Mal gefĂŒttert und Eier werden eingesammelt, einmal morgens und einmal nachmittags. Alles hĂ€ndisch, versteht sich. Es ist neun Uhr, und als wir die Farm betreten, hat die Arbeit der anderen schon lange begonnen. Malte begleitet mich mit seiner Kamera. Nun allerdings nicht mehr in seinem modern-legeren Outfit, sondern in einfacher Arbeitskleidung, die wir hier alle auf der Farm tragen mĂŒssen. âJeder soll sich hier bei der Arbeit gleich fĂŒhlenâ, erklĂ€re ich Malte, der bereits begonnen hat, die Farm und mich aus allen möglichen Positionen zu fotografieren.
âWieso Korea? Und wieso gerade hier? Was hat dich dazu bewegt drei Monate auf einer HĂŒhnerfarm in SĂŒdkorea zu arbeiten?â fragt der junge Journalist, der bereits seit mehreren Jahren in Seoul lebt und arbeitet. Er hat unter anderem fĂŒr den Spiegel Online und die Zeit geschrieben, in Ăsterreich fĂŒr die Tageszeitung âderStandardâ. In Korea hat er sich bereits ein gutes Netz an Kontakten aufgebaut. Von mir und meinem Abenteuer hat Malte ĂŒber die Online-Community meet-korea.de erfahren.
Von Korea hörte ich vor meiner Ankunft fast nur im negativen Sinne. Von einem Land, dessen Bevölkerung, von Kriegsdrohungen des nördlichen Nachbarn gebeutelt, in Angst und Schrecken leben muss. Ein Land, das aufgrund seiner GröĂe in der Geschichte immer wieder durch mĂ€chtigere Nachbarn ausgebeutet wurde. Als Stadtkind war mir auch die Landarbeit völlig fremd, und Arbeit nur etwas, das man am Schreibtisch erledigt. Ein Kulturschock an allen Fronten also. Und eine hervorragende Möglichkeit, um eine Erfahrung fĂŒrs Leben zu machen.
Ich zeige mich ĂŒberrascht ĂŒber Malte, der mich nun bereits ĂŒber acht Stunden hinweg begleitet und alles akribisch festhĂ€lt. Klar ist das hier seine Arbeit. WĂ€re es allerdings nur ums Schreiben gegangen, hĂ€tte er uns bereits viel frĂŒher wieder in Richtung Millionenmetropole Seoul verlassen können. So merke ich, dass diese Arbeit nicht nur mich geformt hat. Als Malte, HĂ€nde und Beine von sich gestreckt, auf den Boden fĂ€llt und vor Erschöpfung schnauft, merke ich, dass der heutige Tag auch an ihm Spuren hinterlassen hat. Ăkologische Themen, Umwelt und Energiewirtschaft haben ihn schon lĂ€nger interessiert. Und dieses Dorf sei ein sehr auĂergewöhnliches in SĂŒdkorea, meint er.
Nach getaner Arbeit setzen sich die 14 Bewohner des Ăko-Dorfes in Gyeonggi-do, SĂŒdkorea, an den Tisch, um ihr Abendmahl gemeinsam zu sich zu nehmen. Zum Abendessen gibt es traditionelles koreanisches Essen. Selbst angebauter Bio-Kimchi (fermentiertes, scharfes GemĂŒse) in den verschiedensten Variationen, Reis, der ohne Verwendung von Pestiziden aufwachsen konnte, und Fleisch von Tieren aus artgerechter Haltung. âWir konnten hier nicht immer so frei leben. Und nicht immer wurde unsere Lebensweise so akzeptiert wie heuteâ, erklĂ€rt der DorfĂ€lteste Yoon Seong-yeol . Die Gemeinschaft lebt nach den GrundsĂ€tzen des Yamagishi Glaubens, der in Japan entsprungen ist. Dabei handelt es sich weniger um einen Glaubensgemeinschaft, als vielmehr um eine Lebensphilosophie. Ihr Hauptgrundsatz besagt, dass Natur und Mensch in einem âEin-Körperâ-Zustand mit- und voneinander leben. Er leitet den Alltag dieser Menschen. Dieses ökologische Leitbild kann als eine frĂŒhe Form der heutigen Ăkobewegung angesehen werden. âHaben Sie seit der Wirtschaftskrise ein erhöhtes Interesse an Ihrer Gemeinschaft bemerkt?â, fragt Malte, der versucht, die nicht nach Besitz strebende Lebensweise der Dorfbewohner zu ergrĂŒnden. âDie Menschen in SĂŒdkorea haben nun zwar gröĂeres Interesse an biologischem Anbau, nicht aber an unserer wirtschaftlichen Ausrichtungâ antwortet Seong-yeol. Die Arbeit auf der Farm wird den Dorfbewohnern nicht ausgezahlt. Vielmehr arbeitet jeder fĂŒr die Gemeinschaft. Das erwirtschaftete Geld kommt auf ein gemeinsames Konto, das vom gesamten Dorf verwaltet wird. Persönliche Bereicherung gibt es also nicht, Geld wird dort ausgegeben, wo es benötigt wird.
Dies hat dem Dorf in Zeiten der MilitĂ€rdiktatur oft Schwierigkeiten eingebracht. In einer Zeit, in der man ĂŒberall kommunistische Spione aus dem Norden vermutete, war ein Dorf dieser Art von den Behörden nicht gerne gesehen. Der Feind konnte hinter jeder Ecke lauern, und Sanan als Hort kommunistischen Gedankenguts dienen.
Erst die Demokratisierung des Landes brachte Entspannung. Misstrauen und Vorurteile konnten durch gemeinsame Festlichkeiten und BauernmĂ€rkten mit anderen Dörfern abgebaut werden. Seit wenigen Jahren engagiert man sich auĂerdem, VolontĂ€re in das Dorf einzuladen. Dies gab auch mir die Chance, in dieses kleine Ăkosystem einzudringen.
Nun stehen wir wieder hier. Wir vier, das sind Malte, Ockjin, die Desinfektionsanlage und ich. Es ist schon spĂ€t, bereits nach neun Uhr. Die meisten Arbeiter, darunter auch Seong-yeol, haben sich bereits in ihr Zimmer zurĂŒckgezogen, denn morgen wartet ein weiterer Tag voller Arbeit. Als sich Maltes Motorrad dieselbe, nun mit Matsch bedeckte StraĂe hinauf schlingt, weiĂ ich, dass wir uns nicht zum letzten Mal gesehen haben.
Auf mich warten hier, in einer Enklave konsumkritischer Menschen, zwei weitere lehrreiche Monate harter Arbeit. Heute, nach ĂŒber zwei Jahren kann ich sagen, dass mich bisher keine andere Lebenserfahrung so geformt hat, wie jene drei Monate in Sanan. Ich habe nicht nur gesehen, sondern auch verstanden, welcher Aufwand benötigt wird, um jene Ressourcen herzustellen, die wir im tĂ€glichen Leben als selbstverstĂ€ndlich hinnehmen. Die Arbeit mit den Tieren und auf der Farm hat mich gelehrt, wie kostbar Essen ist. Und die bescheidene Art der Bewohner dieses Dorfes war fĂŒr mich ein beeindruckender Beweis dafĂŒr, dass SolidaritĂ€t und NĂ€chstenliebe Dinge sind, von denen unsere Gesellschaft ganz bestimmt mehr benötigt.