Von Michael Prammer
Japan ist neben den USA und China eine der wenigen führenden Industrienationen, in denen Hinrichtungen auch heute noch vorgenommen werden. Innerhalb der letzten zehn Jahre wurden insgesamt 44 Menschen hingerichtet; 132 weitere warten noch in ihren Zellen. Die Hinrichtung an sich ist jedoch bis heute noch weitgehend ein Tabuthema.
Es ist neun Uhr morgens in einem japanischen Gefängnis. Ein plötzliches Klopfen an der Zellentür des Insassen lässt diesen hochschrecken. Ein Polizeibeamter tritt ein, seine Miene ist ausdruckslos. Er müsse ihn ins Büro begleiten. Der eingeschlagene Weg führt jedoch in eine kleine Kammer am oberen Ende einer schmalen Treppe. Am Fuße derselben wird dem Insassen klar, was mit ihm geschieht. Er schreckt zurück, versucht zu fliehen, doch die Beamten zerren ihn in die Kammer. Dort befinden sich weitere Beamte, einer von ihnen legt ihm Augenbinde und Strick an. Noch einmal versucht der Insasse mit einer verzweifelten Kraftanstrengung auszubrechen. Er windet sich, schreit und verteilt Tritte, doch ohne Erfolg. Auf ein kurzes Kommando hin drücken drei Beamte drei Knöpfe und die Falltür unter den Füßen des Insassen öffnet sich.
Auf diese Art endet das Leben des 28-jährigen Hirakazu. Seine Familie wird bald darauf verständigt und gebeten, den Leichnam in Empfang zu nehmen. Weder die Angehörigen noch Hirakazu selbst wussten, dass dieser Tag der letzte seines Lebens sein würde. Das ist die Realität der japanischen Todestrakte, in denen Insassen oftmals über Jahrzehnte hinweg auf ihre Hinrichtung warten. Die Darstellung der letzten Minuten in Hirakazus Leben ist aber nicht erfunden, sondern stammt aus der Feder des ehemaligen Gefängniswärters Sakamoto Toshio, der seine Erfahrungen im Todestrakt in der illustrierten Novelle „Wie ein Todesurteil vollstreckt wird“ eindrucksvoll schildert. Auf 286 Seiten beschreibt Sakamoto seine Erinnerungen an den Alltag, den er über Jahre hinweg erlebte und zerstört durch die brutal-ehrliche Darstellung einer Hinrichtung die mystische Komponente, welche den japanischen Hinrichtungszellen durch das Bilderverbot lange Zeit anhaftete. Die teils als Manga grafisch dargestellten Augenzeugenberichte reißen die Mauer des Schweigens und der Gleichgültigkeit kurzzeitig ein und konfrontieren die Leser mit der Realität der Todesstrafe in Japan.
Sakamotos Buch scheint die japanische Bevölkerung jedoch nicht nachhaltig beeinflusst zu haben. Laut einer Regierungsumfrage aus dem Jahr 2009 sprechen sich immerhin 86% der Japaner für die Aufrechterhaltung der Todesstrafe aus. Ogawa Toshio, der seit Januar 2012 den Posten des Justizministers innehat, begründet auf dieser Umfrage die Legitimität der Todesstrafe, die „das Recht und de[n] Anspruch auf Bestrafung in den Händen der Bürger“ darstelle. Diese Argumentation erlaubt eine „ideelle Demokratisierung“ der Problematik. Trifft man eine Entscheidung dieses Ausmaßes durch direkte Demokratie, so löst sich die Verantwortlichkeit einer einzelnen Person auf und wird auf ein ganzes Volk verteilt. Man macht alle Menschen zu gleichen Teilen verantwortlich und die Grenze zwischen Opfer und Täter beginnt zu verschwimmen.
Diese zugrunde liegende Absurdität wurde bereits in einem der frühen japanischen Filme der Sechzigerjahre porträtiert. In einer Zeit, die von Demonstrationsbewegungen und dem gewalttätigen Widerstand gegen staatliche Autorität geprägt war, entstand unter der Regie von Oshima Nagisa der Film „Tod durch Erhängen“. In diesem wird ein junger Koreaner erhängt, überlebt jedoch wider Erwarten die eigene Exekution. Da er jegliche Erinnerung an sein früheres Leben und die von ihm verübten Morde verloren hat, sehen sich die für die Hinrichtung zuständigen Personen gezwungen, ihm die eigene Schuld verständlich zu machen. Die Hinrichtenden sind auf seine Einsicht angewiesen, da sie sich nur dann nicht selbst als Mörder fühlen können. Im Laufe des Films gehen sie in ihrer wachsenden Verzweiflung sogar so weit, dass sie die Morde nachstellen und damit auch zu Tätern werden. Die Frage der Verantwortlichkeit verschwindet also nicht in ihrer Aufteilung, sondern bleibt bestehen und macht alle Menschen zu Mördern.
Sowohl bei Oshimas wie auch Sakamotos Werk handelt es sich um eine beeindruckende Darstellung der Realität der Todesstrafe. Der Rückhalt der Bevölkerung scheint jedoch weiterhin sehr stark zu sein und es bleibt zu erwarten, wie sich dieser Trend im Laufe der nächsten Jahre entwickeln wird. Solange die Todesstrafe als Option des Strafvollzugs gesehen wird, mutet das Motto des Justizministers Ogawa, „Sanft zum Menschen, hart zur Ungerechtigkeit“, letztendlich aber zynisch an.