von Stefan Wackerlig
Der Großteil der Produktionen des 2018 erschienenen Albums „F.T.W.“ der Beijinger Hip-Hop-Formation Purple Soul sind sample-basiert und bedienen sich dabei im reichhaltigen Fundus des Canto- und Mandopops vergangener Jahrzehnte. Doch wie fand zuckerlfarbener Popsound aus Hongkong und Taiwan seinen Weg in Beijinger Hip-Hop-Beats des 21. Jahrhunderts?
Während Hip-Hop und Rap im Jahr 2018 durch den Erfolg der Casting-Show „The Rap of China“ in den chinesischen Mainstream katapultiert wurden, finden sich abseits dieser Charterfolge weiterhin diverse Spielarten des Hip-Hops. Nicht nur sind die Grenzen des textlich Erlaubten bei geringerer Reichweite weniger streng, auch lassen sich stilistisch einige charakteristische Merkmale erkennen. Viele der Gruppen, die sich als „Underground“ sehen, orientieren sich stark an der vor Jahrzenten in den USA entstandenen Hip-Hop-Kultur.
Lange Zeit galten DJing, MCing, sowie Graffiti und Breakdance als die vier Elemente des Hip-Hops. Dabei traten insbesondere die beiden zuletzt genannten, außermusikalischen Elemente immer weiter in den Hintergrund und auch das Sampeln von bereits bestehender Musik zur Beatproduktion spielt nur mehr eine untergeordnete Rolle. In den Musikvideos von Purple Soul (龙胆紫) sind jedoch sowohl Graffiti als auch Breakdance weiterhin integrale Bestandteile. Ebenso old-school zeigt sich die Formation in der Verwendung von Samples in ihren Produktionen.
Digging in the Crates
Der hohe Stellenwert, den Samples für die Gruppe einnehmen, wird in einem Interview mit FAC-D12, dem Produzenten von Purple Soul, deutlich: „Ein wichtiges Merkmal von Hip-Hop-Beats ist, dass sie alte Musik sampeln. Für unsere Generation ist die Basis dafür die Popmusik aus Hong Kong und Taiwan. Wir diggen uns oft durch alte Mando- und Cantopopmusik, um dort Inspiration für neue Beats zu finden.“
Welche Vorgänge haben dazu geführt, dass Popmusik aus Hong Kong und Taiwan zum wichtigsten Referenzwert der Generation von Musikerinnen, die in den 1980ern in Festlandchina geboren wurden, werden konnte?
Vom revolutionären Lied zum Popsong
Im Shanghai der späten 1920er und frühen 1930er Jahre bestand eine hauptsächlich auf die Produktion von leicht eingängigen Liebesliedern fokussierte Musikindustrie. Jedoch schon während der Blüte ihrer Popularität in den 1930ern wurden diese Lieder als „pornographisch“ diffamiert und es verwundert nicht, dass das Genre nach der Ausrufung der Volksrepublik durch die Kommunistische Partei Chinas im Jahr 1949 in seiner Gesamtheit verboten wurde. Die ideologische Grundlage für ein derartiges Verbot lieferten die Reden Mao Zedongs am Forum zu Kunst und Kultur im Jahre 1942 in Yan’an, der damaligen Basis der Kommunistischen Partei Chinas. In seinen Reden postulierte Mao die Maxime, dass Kunst die Realität der Arbeiter und Bauern abbilden und diesen dienen soll. Die Künste waren somit den politischen Anfordernissen untergeordnet und sollten einen Beitrag zur Revolution leisten.
In diesem Klima konnte sich bis Mitte der 1970er Jahre keine populäre Musik im engeren Sinne bilden. Erst die nach dem Tod Maos eingeleitete Reform- und Öffnungspolitik machte die schrittweise Diversifizierung des Musikangebots innerhalb der Volksrepublik möglich. Dies geschah zunächst durch den illegalen Import von Kassetten und später CDs.
Liebe, Liebe, Liebe
Trotz des Verbots der von offizieller Seite als „bourgeois“ abgestempelten Musikimporte aus Taiwan und Hong Kong erfreuten sich diese in der Volksrepublik immer größerer Beliebtheit. In den mit simplen Rhythmen unterlegten ausladenden Arrangements waren chinesische Instrumente zu hören und auch die Texte wurden in chinesischer Sprache gesungen. Besonders aber die Tatsache, dass nach über zwei Jahrzehnten der revolutionären Lieder die romantische Liebe wieder als Leitmotiv in die Musik zurückfand, trug maßgeblich zum Erfolg der Genres bei.
Die erste Musikerin, die auch innerhalb der Volksrepublik Chinas den Pop-Superstarstatus erlangte, war die taiwanische Sängerin Deng Lijun, die dem internationalen Publikum gemeinhin als Teresa Teng bekannt ist. Mit ihrer leicht gehauchten, picksüßen Stimme konnte sie sich innerhalb kürzester Zeit in die sehnsüchtigen Herzen der Festlandchinesinnen singen. Bereits während der 1970er Jahre kam der mittlerweile längst schon zum Klischee gewordene Spruch „Tagsüber hören wir auf den alten Deng [Xiaoping], nachts hören wir auf die kleine Deng [Lijun]“.
Mitte der 80er Jahre wurde das ohnehin nicht durchsetzbare Verbot von Mando- und Cantopop aufgehoben und der Einzug in den Mainstream war damit endgültig besiegelt. Eben zu dieser Zeit der Omnipräsenz chinesischsprachiger Popmusik wurden die Mitglieder Purple Souls geboren und musikalisch sozialisiert.
Instrumentalloops als Basis für Beats
„Ich mag die alte Musik und die alten Filme der 80er und 90er Jahre […] meistens sind besonders die Intros der alten Lieder sehr fesselnd. Deshalb sample ich relativ viele davon,“ so der Produzent FAC D12.
Beispielhaft dafür ist der Purple Soul Track „Unterführung“ (地下通道), dessen Beat auf dem 1992 erschienenen Single „Das Netz der Liebe reißt nicht ein“ (冲不破情网) der taiwanischen Sängerin Lee E-jun basiert. Das Intro des Originals beginnt mit sphärischen Marimbaklängen, zu denen sich Streicher, Trommeln, sowie Erhu- und Flötenklänge gesellen, bevor schlussendlich der Gesang die erste Strophe einleitet. Vom Pomp des ausladenden Arrangements bleibt im Purple Soul-Track nur wenig übrig: Lediglich die Marimba bleibt erhalten und wird durch die obligatorische Drum-Machine und E-Gitarrensounds ergänzt. Die „typisch chinesische“ Instrumentierung und die chinesischen Gesangsspuren des Mandopop-Songs werden im Sample bewusst nicht übernommen.
Von der Kantonoper zur Hip-Hop-Single
Im Break des Lieds „Überführung“ (立交桥) ertönet eine Frauenstimme, die auf dramatischste Art und Weise drei Silben vorträgt. Der Gesang macht deutlich, dass es sich dabei um ein Sample handelt und die ausgeprägten melodischen Verzierungen erinnern stark an chinesischen Operngesang. Die Stimme stammt von der Hongkonger Cantopop-Sängerin Sum Sum und tatsächlich bezieht sich diese Passage ihres 1971 erschienen Lieds „Gu Qing Qing“ (孤清清) auf eine Kanton-Oper: Der Vierte Akt von „Prinzessin Changping“ (帝女花) beginnt ebenso wie der Song Sen Sens mit den gleichen – wohlgemerkt auf Kantonesisch gesungenen – Worten.
Durch die Verwendung des Gesangssamples wird die Produktion auch unabhängig von den Texten der MCs unmittelbar in einen chinesischen Kontext gesetzt, wobei sich dabei sowohl auf die Tradition der Kanton-Oper als auch auf den Hongkonger Pop-Sound der 70er-Jahre bezogen wird.
Unerkannte Intertextualität?
Es besteht also kein Zweifel, dass der Mando- und Cantopopsound vergangener Zeiten immer noch ein prägender Faktor für die in den 1980ern geborene Beatbastler-Generation innerhalb der Volksrepublik China ist. Was jedoch offen bleibt, ist inwiefern die durch die musikalische Paraphrase geschaffenen, zusätzlichen Ebenen der Intertextualität auch tatsächlich erkannt werden. Besonders fragwürdig ist, ob das Hören obskurer Instrumentalloops eine unmittelbare Verbindung zu einer vergangenen Ära schaffen kann. Wer zum Beispiel kennt das Sample zum Eminem Überhit „My Name Is“?