DocuCorner #1
Filmkritik
von David Lenz
UnabhĂ€ngige Filmemacherinnen in China widmen sich oft marginalisierten Gruppen und Themen abseits der offiziellen Narrative. Jiang Nengjies neuer Dokumentarfilm rĂŒckt das Leben einer kleinen Gruppe von Bergbauarbeiterinnen in den illegalen Minen in den Mittelpunkt und gibt einen Einblick in die KomplexitĂ€t der Probleme der lĂ€ndlichen Bevölkerung.
„Sie haben viel fĂŒr die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Chinas geopfert. Es sollte eine Doku ĂŒber sie geben,“ so der 1985 geborene Regisseur in einer Online-Diskussion. Im Mittelpunkt seines im Dezember 2019 erschienenen Dokumentarfilms „Miners, the Horsekeeper and Pneumoconiosis“ (çżæ°ă驏怫ăć°èșç ) steht das Leben der Bergbauarbeiterinnen im SĂŒdwesten der chinesischen Provinz Hunan. Es handelt sich dabei um keinen Blockbuster, sondern ganz im Gegenteil um eine unabhĂ€ngige, im Internet veröffentlichte low-budget Selbstproduktion.
Leben inmitten zahlreicher Risiken
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Die Kamera des Regisseurs begleitet nicht nur MĂ€nner in den Minen, sondern portrĂ€tiert auch andere Gruppen, die ihren Unterhalt aus den Bergen beziehen. Dazu gehören auch Frauen, die einen Teil dieser Minenwirtschaft bilden. Sie leben vom Steinabfall, den sie ein wenig unterhalb der Mine auf Erzreste durchsuchen. Da die Minen nur zu FuĂ erreichbar sind, kommen auch Pferdehalter ins Spiel. Sie beliefern die Arbeiterinnen mit VorrĂ€ten und transportieren das Erz gegen eine GebĂŒhr ab. Ăber steile BerghĂ€nge und schmale Pfade im Dorf angelangt, wird es mitten in der Nacht auf Lastwagen umgeladen.
Die Arbeit in den illegalen Erzminen ist Ă€uĂerst riskant und instabil. Menschen werden verschĂŒttet, von den toxischen Abgasen aus den illegalen Sprengstoffen vergiftet oder die Behörden schlieĂen gar die Mine nach einer Regierungsinspektion. Diese Hauptthemen sind der GesprĂ€chsstoff vieler Filmszenen und ein fĂŒr AuĂenstehende alltagsferner Teil des kollektiven Wissens und der RealitĂ€t der im Film gezeigten Personen.
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Warum lĂ€sst man sich ĂŒberhaupt auf so eine gefĂ€hrliche Arbeit ein? Der Film gibt eine Antwort: solange sich die Rohstoffpreise nach oben entwickeln, ist es besser als nichts. Im Jahr 2012 stiegen aber die Verbraucherpreise an, der Erzpreis brach ein und viele Minen wurden nach Inspektionen geschlossen oder gingen bankrott. So wechselte auch der ehemalige Minenboss Liu den Beruf und wurde zum Paketboten in der Provinzhauptstadt Changsha.
FĂŒr die Bergbauarbeiterinnen gilt: die RĂŒckkehr zur Landwirtschaft bedeutet einen weiteren Schritt in die Armut. Das Leben als Wanderarbeiterin in der Stadt ist zwar hart, bietet aber einen besseren Unterhalt als Landwirtschaft. Dennoch bleibt Landflucht fĂŒr viele der einzige Ausweg.
Dorfleben und Problembewusstsein
Einer dieser Menschen ist Zhao Pinfeng, dessen Familie in Guangâancun, dem Heimatdorf des Regisseurs im Kreis Xinning, lebt. Zhao, der sein ganzes Leben schwere Arbeit in der Mine verrichtet hat, leidet an der schweren Lungenkrankheit Pneumokoniose, einer fĂŒr Bergarbeiterinnen typischen Berufskrankheit, im Endstadium. Da er auf das elektrisch betriebene SauerstoffgerĂ€t angewiesen ist, stellt ein neues Leben in der Stadt keine Alternative fĂŒr ihn dar. Er fĂŒrchte sich nicht vor dem unausweichlichen Tod, sondern macht sich Sorgen um seine Familie. Als es eines Tages plötzlich zum Stromausfall kommt, verstirbt Zhao.
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Der Film bietet einen eindrucksvollen Einblick ins Dorfleben und illustriert, wie die Probleme der lĂ€ndlichen Bevölkerung in China von den Protagonistinnen selbst wahrgenommen werden. Die GesprĂ€che drehen sich um den Zugang zur Schulbildung, die mangelnde Gesundheitsversorgung und andere systemische Probleme wie Korruption, politische Partizipation und Berichterstattung nach dem Motto „nur Gutes berichten“ (æ„ćäžæ„濧).
LĂ€ndliche Problematik und Aktivismus im Film
Xinning galt bis Februar 2020 offiziell als einer der 832 Ă€rmsten Kreise Chinas. Die staatliche Kampagne gegen Armut wurde unter Xi Jinping intensiviert, da die ParteifĂŒhrung im Jahr 2020 die nĂ€chste Entwicklungsstufe, nĂ€mlich die „Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand“ (ć°ćș·ç€ŸäŒ) zu erreichen sucht. Die Fortschritte sind beachtlich: Im Jahr 2010 lebten offiziell noch ĂŒber 17 Prozent der lĂ€ndlichen Bevölkerung in extremer Armut, Ende 2019 waren es mit 5,5 Millionen lediglich 0,6 Prozent. So die Statistiken â der Film zeigt das Leben abseits der offiziellen Zahlen: Als Zhao endlich sein Existenzminimum bekommt, kann er sich mit 900 RMB pro Jahr (ca. 115 Euro) gerade einmal neun Tage im Krankenhaus leisten.
Viele der Probleme bilden den Stoff von frĂŒheren Filmen von Jiang Nengjie, der durch seine Biografie eine groĂe AffinitĂ€t zu diesen Themen und seinem Heimatdorf empfindet. Wie der Blick in die umfassende Filmographie verrĂ€t, beschĂ€ftigte sich Jiang in den Dokumentarfilmen „The Road“ (2010), „The Ninth Grade“ (2014), „Children at a Village School“ (2014), „Jia Yi“ (2016) und im Spielfilm „Yunjie“ (2018) intensiv mit dem Leben am Land zurĂŒckgelassener Kinder von Wanderarbeiterinnen. Seine Filme haben in der Vergangenheit einiges bewirkt. Nachdem er die Probleme aufgezeigt hatte, meldeten sich Medien und NGOs zu Wort und setzten sich fĂŒr die Betroffenen ein.
Der Film ĂŒberzeugt nicht durch das wackelige Kamerabild und die Struktur, die sich wohl erst im Laufe der Dreharbeiten ergeben hat. Der Regisseur klĂ€rt im Film nur minimal ĂŒber die HintergrĂŒnde der aufgezeigten Probleme auf, die Interpretation ĂŒberlĂ€sst er dem Publikum. Dennoch ist das Ergebnis sehr wertvoll und bietet viele Anhaltspunkte fĂŒr weitere Diskussionen. UnverstĂ€ndlicher Hunan-Dialekt, Vertrauen seitens der im Film dargestellten Personen und die Gefahren bei den Dreharbeiten â all das sind Hindernisse, die kaum jemand anderer als Jiang Nengjie ĂŒberwinden könnte. Dem Regisseur ist eine Hommage an die Bergbauarbeiterinnen nicht zuletzt auch eine ganz persönliche Angelegenheit, denn viele der Protagonistinnen kommen aus seinem Familien- und Freundeskreis.
Der Film strebt nicht nach ObjektivitĂ€t, sondern soll einen Einblick in das Leben einer unterreprĂ€sentierten Gruppe geben. Es ist ein Muss fĂŒr alle, die sich fĂŒr das lĂ€ndliche China interessieren und sich mit der komplexen Problematik der lĂ€ndlichen Bevölkerung kritisch auseinandersetzten möchten.