Chinas erstes Zivilgesetzbuch

Great Hall of the People Foto: "Firefighters in front of the Great Hall of the People" von Bert van Dijk. Lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0

von Simona Buss

Der Paukenschlag zum Jahreswechsel: Am 1.1.2021 trat in China ein Zivilgesetzbuch in Kraft. Es handelt sich dabei um das erste Zivilgesetzbuch Chinas. Dieses lang erwartete Gesetzeswerk stellt das umfassendste Legislaturprojekt seit Gründung der Volksrepublik 1949 dar.

Das Privatrecht findet Anwendung auf alle Lebensabschnitte eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Ein Zivilgesetzbuch kodifiziert die zentralen Teile des Privatrechts, wobei das Zivil- bzw. Privatrecht – im Gegensatz zum Öffentlichen Recht – die rechtlichen Beziehungen zwischen einzelnen Personen regelt. Es gibt beispielsweise Antworten auf folgende Fragen: Wann kann ein Vertrag aufgelöst werden? Wer sind die erbberechtigten Personen? Unter welchen Voraussetzungen kann eine Ehe geschieden werden? Nach mehrmaligen Versuchen einer zivilrechtlichen Kodifikation stellt das Zivilgesetzbuch Chinas einen Meilenstein in der Rechtsentwicklung der Volksrepublik dar. Als Herzstück des chinesischen Privatrechts erhebt es den Anspruch, sämtliche Dimensionen des Lebens in einer Zivilgesellschaft abschließend zu regeln.

 Mit dem Zivilgesetzbuch ins 20. Jahrhundert

In westeuropäischen Ländern gab es schon früh Zivilgesetzbücher. Als internationaler Vorreiter beschloss das Kaisertum Österreich bereits 1811 das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, das bis heute in Geltung ist. Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) trat zwar erst 1900 in Kraft, hinterließ jedoch auch Spuren in Jurisdiktionen weitab seiner Landesgrenzen: Beispielsweise erfolgte in Japan bereits im 19. Jahrhundert eine Rezeption der Vorentwürfe des BGB.

Im Vergleich zu den Entwicklungen in Westeuropa gab es zwar in China bereits in den letzten Jahren der Qing-Dynastie (1902-1911) Kodifikationsentwicklungen im Privatrecht, jedoch verlangsamten sich diese mit dem Fall der Dynastie. Nach der Ausrufung der Volksrepublik im Jahr 1949 distanzierte sich die politische Führung von zuvor erstellten Kodifikationen.

Die Volksrepublik bekannte sich erst durch die „Reform- und Öffnungspolitik“ Ende der 1970er-Jahre zum Wiederaufbau eines Rechtssystems.

Das seit Gründung der Volksrepublik bestehende Gesetzesvakuum musste innerhalb kürzester Zeit gefüllt werden, weshalb das Privatrecht wieder ins Rampenlicht rückte. Im Jahr 1979 begannen erneut die Kodifizierungsarbeiten für ein Zivilgesetzbuch. Da die Umwälzung des Wirtschaftssystems noch in den Kinderschuhen steckte und sich das gesellschaftliche Leben im Umbruch befand, betrachtete die politische Führung die kurzfristige Verabschiedung eines kompakten Zivilgesetzbuches als unrealistisch. Die Gesetzgebung nahm daher vom ursprünglich geplanten Vorhaben Abstand und beschloss stattdessen, separate Einzelgesetze zu erlassen. So kam es auch im zivilrechtlichen Bereich zu einer Gesetzesflut bestehend aus unter anderem dem Ehegesetz (1980), Erbrechtsgesetz (1985) oder dem Vertragsrechtsgesetz (1999). Die Kodifizierung eines einheitlichen Zivilgesetzbuches wurde vorerst pausiert.

Nach einem weiteren gescheiterten Versuch 2002 verkündete das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei schließlich 2014 die Absicht, ein einheitliches Zivilgesetzbuch zu erlassen. Diesmal sollte der Kodifikationsprozess Früchte tragen: 2017 trat der erste Teil des Zivilgesetzbuches, die Allgemeinen Bestimmungen, in Kraft; 2018 wurden die restlichen Teilentwürfe beim Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses eingereicht. Am 28. Mai 2020 verabschiedete der Nationale Volkskongress, das chinesische Parlament, die Letztversion des Entwurfes für das Zivilgesetzbuch mit dem Inkrafttretensdatum 1.1.2021.

Beteiligung der Öffentlichkeit

Die Bedeutung des Zivilgesetzbuches spiegelte sich auch während des Gesetzgebungsprozesses in der breiten Beteiligung der Öffentlichkeit wider. Grundsätzlich sind im Entwurfsstadium von chinesischen Gesetzen Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgerinnen vorgesehen wie öffentliche Anhörungen. Auf diese Weise soll die Meinung der Öffentlichkeit miteinbezogen und so für eine höhere Legitimität sowie bessere Durchsetzbarkeit der Gesetze gesorgt werden.

Neben öffentlichen Anhörungen existiert das standardmäßig eingesetzte Instrument der Stellungnahme zu Gesetzesentwürfen seitens der Öffentlichkeit. Meist veröffentlicht dabei der Ständige Ausschuss nach der ersten Lesung den jeweiligen Gesetzesentwurf auf der Website des Nationalen Volkskongresses. Er fordert die Öffentlichkeit auf, Kommentare sowie Änderungswünsche online oder per Post bekannt zu geben, zumeist innerhalb der Frist von einem Monat. Danach folgen weitere Lesungen durch die Gesetzgebung und schlussendlich wird das jeweilige Gesetz verabschiedet.

Die Öffentlichkeitsbeteiligung an den Gesetzesentwürfen für das chinesische Zivilgesetzbuch war beachtlich. Insgesamt erhielten die einzelnen Teilentwürfe und der letzte Gesamtentwurf während der Entwurfsphase über 900.000 Kommentare aus der Bevölkerung.

Gesetzessystematik im Vordergrund

Anhand eines Vergleichs des Zivilgesetzbuches mit den zuvor geltenden privatrechtlichen Einzelgesetzen ist ersichtlich, dass der Gesetzgebungsprozess von Kontinuität geprägt war. So griff der Gesetzgeber mit Ausnahme von vereinzelten Änderungen auf den privatrechtlichen Gesetzesbestand Chinas zurück und verknüpfte die bisher in Geltung befindlichen privatrechtlichen Einzelgesetze miteinander.

Die Einzelgesetze wurden nunmehr in einen systematischen und logischen Zusammenhang zueinander gebracht, um sie aufeinander abzustimmen.

Die punktuellen Änderungen beziehen sich u.a. auf Strafschadenersatz bei vorsätzlich zugefügten Umweltschäden, ordentliches Kündigungsrecht bei Dauerschuldverhältnissen, Haftung bei aus Gebäuden herabfallenden Gegenständen.

An der Sprache des Gesetzestextes fällt auf, dass es sich in weiten Teilen um vage und allgemein gehaltene Formulierungen handelt, die der erforderlichen rechtlichen Präzisierung entbehren. Der Oberste Volksgerichtshof hat diesen Missstand bereits erkannt und zwei Tage vor dem Inkrafttretensdatum des Zivilgesetzbuches ein umfassendes Paket an konkretisierenden Umsetzungsbestimmungen erlassen.

Umsetzung?

Die Bedeutung des Zivilgesetzbuches zeigte sich besonders während des Gesetzgebungsprozesses, als sämtliche veröffentlichten Gesetzesentwürfe von der breiten Öffentlichkeit intensiv kommentiert wurden.

Abgesehen von seiner Wichtigkeit als erste vereinheitlichte und weitreichende Kodifikation des chinesischen Privatrechtes handelt es sich bei dem Zivilgesetzbuch um eine Zusammenführung bereits bestehender Einzelgesetze. Die tatsächlichen Auswirkungen des neuen Zivilgesetzbuches, insbesondere die Verflechtung mit den konkretisierenden Umsetzungsbestimmungen, die kürzlich ergingen, werden sich jedoch erst in den kommenden Monaten durch die Anwendung in der Praxis zeigen.