Südkorea: Überwachung im Namen der Gesundheit

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Analyse
von Mark-Stephan Kolesik

Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit, Fiebermessungen an Gebäudeeingängen, Contact-Tracing und strenge Überwachung von Personen, die sich in Quarantäne befinden: All das gehört seit Monaten zur „neuen Normalität“ in Südkorea. Entscheidend ist dabei der großflächige Einsatz von Überwachungstools wie Smartphone-Apps. International wird das System gelobt – sehen wir in Korea vielleicht bereits das auch für uns Unvermeidbare?

Mitte März war Jérémy André, der Hongkong-Korrespondent des französischen Magazins Le Point, nach Korea gereist, um über den dortigen Kampf gegen das Coronavirus zu berichten. Als seine Frau Charlène erkrankte, musste sich das Team noch in Korea in Quarantäne begeben. Sein Bericht sorgte für Aufsehen, denn wegen der ausufernden Infektionszahlen hatte die koreanische Regierung strenge Anweisungen erlassen.

Berechtigte Überwachung?

Anders als in Frankreich, wo die Überwachung von sich in Quarantäne befindlichen Personen oft als das wahrgewordene 1984 und faschistisch betrachtet wird, hatte André über die seiner Meinung nach berechtigten Maßnahmen zur Rettung von Menschenleben in Südkorea berichtet. Diese fänden die Unterstützung der Bevölkerung in einem Staat, der sich seit der Demokratisierung in den 1980er Jahren und insbesondere seit der Amtsenthebung der ehemaligen Präsidentin Park Geun-hye 2017 als eine der lebhaftesten Demokratien Asiens beweisen konnte.

Während in vielen Ländern Europas die gesamte Bevölkerung durch landesweite Lockdowns die Last der Pandemie zu tragen hatte, konnte man in Südkorea ein völliges Schließen der Wirtschaft und einen Stillstand des gesellschaftlichen Lebens durch den Einsatz moderner Technologien verhindern.

Schauplatz Europa: „Neue Normalität“ in Phase 2

In der Zwischenzeit befindet sich Europa in Phase 2 der Bekämpfung des Coronavirus. Groß war der Schock über die rigiden Maßnahmen, die unseren Alltag merklich verändern sollten. Und doch: Irgendwie haben wir uns an sie gewöhnt, an diese viel zitierte „neue Normalität“. Zwei Monate nach dem Lockdown befinden wir uns auf dem besten Weg, die Ausbreitung dieses neuartigen Virus wieder in ein kontrollierbares Ausmaß zurückzuführen. Doch es gibt auch schlechte Nachrichten: Der schwierige Teil dieses Kampfes steht uns noch bevor; vor allem gesellschaftlich.

Denn wie diese viel beschriebene „neue Normalität“ denn nun überhaupt aussehen soll, die der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz Mitte März in Pressekonferenzen mit Verweis auf die Länder Ostasiens unermüdlich erwähnte, darüber ist man sich hierzulande noch nicht so ganz einig. Gegen die „neue Normalität“, die in vielen dieser Länder nun zum Alltag gehört, regt sich vehementer Widerstand.

Südkorea: ein Vorbild für westliche Demokratien?

Während die Volksrepublik China mit ihren rigorosen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus eher zögerlich gelobt wurde, gilt Südkorea als Musterschüler in der Bewältigung der aktuellen Krise. Das Land war im Februar noch einer der größten Krisenherde außerhalb Chinas. In der Stadt Daegu war es zu einem großen Ausbruch an Infektionen gekommen. Doch die Zahlen von mehreren hundert bestätigten Fällen täglich reduzierten sich auf nur einige wenige Anfang Mai.

Dass flatten the curve auch in Demokratien und ohne das Einsperren der gesamten Bevölkerung funktionieren kann, hat Südkorea damit eindrucksvoll bewiesen. Ein landesweiter Lockdown, wie er in den meisten Ländern Europas hastig eingeführt wurde, war dadurch nicht notwendig. Dies kann auf eine Kombination verschiedener Maßnahmen zurückgeführt werden.

Kein landesweiter Lockdown

Neben dem Tragen von Schutzmasken, die zwar außer in den öffentlichen Verkehrsmitteln gesetzlich nicht vorgeschrieben sind, aber deren Nutzung in vielen Geschäften bei Betreten dennoch eingefordert wird, gehört neben dem unermüdlichen Erinnern an Verhaltensnormen des social distancing zu jenen Maßnahmen, die weitestgehend angenommen werden. Unternehmen wird je nach Möglichkeit empfohlen, Home-Office für ihre Mitarbeiterinnen einzurichten. Zusätzlich ist bei Einreise eine zweiwöchige Quarantäne einzuhalten. Ein großer Unterschied ergibt sich allerdings bei der Nutzung moderner Technologien.

Südkorea hat seit den Ausbrüchen von SARS (2003) und MERS (2015) an seinen Epidemiegesetzen gearbeitet. So gibt das 2015 verabschiedete Gesetz zur Kontrolle und Prävention von Infektionskrankheiten den Behörden weitreichende Möglichkeiten zur Identifizierung und Überwachung möglicher sowie bestätigter Infektionsfälle.

Bewegungsdaten im Internet

Behörden können die Bewegungsdaten bestätigter Fälle zur Einsicht für die Bevölkerung veröffentlichen. Diese Daten beinhalten penibel genaue Routen, Wahl des Verkehrsmittels, Zeitpunkte und Orte eines Aufenthaltes sowie Begegnungen mit anderen Personen, und ermöglichen ein vollständiges contact tracing innerhalb weniger Minuten statt mehrerer Tage, wie es bei manueller Nachverfolgung der Fall wäre. Bewegungsabläufe werden gewissermaßen rekonstruiert, und Personen, die mit Infizierten in Kontakt waren, ausgeforscht und informiert.

Das ist durch die Auswertung von Überwachungskameramaterial und Kreditkarteninformationen möglich. Über diesen Weg werden auch Personen, die sich in unmittelbarer Nähe eines bestätigten Krankheitsfalles aufhielten, informiert. Selbst der unbeabsichtigte Kontakt mit Betroffenen hat somit weitreichende Folgen für die Einzelne.

Mindestens zwei Wochen Quarantäne

Verdachtsfälle müssen sich für mindestens zwei Wochen in häusliche Isolation begeben, die unter Androhung empfindlicher Strafen nicht verlassen werden darf. Bei der Versorgung mit Lebensmitteln helfen Behörden, aber auch Privatorganisationen.

Als sich im Februar und März Berichte mehrfacher Nichteinhaltung der häuslichen Quarantäne häuften, entschied sich die Regierung zu einer verpflichteten App, die Verdachtsfälle auf ihrem Mobiltelefon installieren müssen, um es den Behörden per GPS zu ermöglichen, ihren Aufenthaltsort rund um die Uhr zu überwachen. Auch der Gesundheitszustand muss täglich über die App eingetragen werden.

Nachdem sich einige Personen dennoch aus dem Haus schlichen, und ihre Telefone einfach zu Hause ließen, um so ihre Anwesenheit vorzutäuschen, stellte die Regierung von Moon Jae-In ein Armband vor, das Standorte per GPS ausfindig macht und bei versuchtem Entfernen Alarm schlägt.

Bevölkerung unterstützt Eingriff in die Grundrechte

Diese Maßnahmen im Auftrag der öffentlichen Gesundheit, die selbst für die mit ihrer Privatsphäre sonst eher lasch umgehenden Koreaner als besonders rigide gelten, werden mit nur wenig öffentlicher Diskussion und Kritik hingenommen. Im Gegenteil: Während in vielen Ländern Wahlen verschoben werden mussten, bestätigten die mitten in der Pandemie stattgefundenen Parlamentswahlen am 15. April den Kurs der regierenden Demokratischen Partei des Miteinanders von Präsident Moon Jae-In mit einem Ergebnis von 49,91 Prozent der Stimmen. In einer Umfrage durch Realmeter äußerten 89,1 Prozent der Befragten ihre Zustimmung zum Tracking.

Kritik an fehlendem Datenschutz

Kritikerinnen der Maßnahmen beklagen insbesondere das Ausmaß der Veröffentlichung von Daten. So werden neben den Bewegungsdaten in zahlreichen Fällen auch Alter, Geschlecht und der Wohnbezirk veröffentlicht, was eine direkte Identifikation der Betroffenen theoretisch möglich macht. Berichte von Diskriminierung sowie die psychischen Folgeschäden sind hier unabsehbar, jedoch zu erwarten. Trotzdem überwiegen im Land unbestritten die Befürworter dieses Weges.

Für Aufsehen sorgt derzeit ein neues Aufflammen von Infektionsherden in der Hauptstadt Seoul. Ein 29-jähriger Mann hatte sich unwissentlich mit dem Coronavirus infiziert, und steckte bei mehreren Klubbesuchen an nur einem Abend hunderte Personen an. Besonders prekär ist die Nachricht, dass der Mann sich auch in einem Szeneklub für Homosexuelle aufgehalten haben soll. Da Homosexualität in Korea gesellschaftlich nach wie vor ein konfliktbehaftetes Thema ist, hatten viele Besucher des Klubs bei der verpflichtenden Besucherregistrierung am Eingang falsche Kontaktdaten angegeben, was eine Ausforschung durch die Behörden erschwert.
Die Vereinbarkeit von Datenschutz, Freiheitsrechten sowie einer kollektiven Wahrung öffentlicher Gesundheit wird noch Anlass für zahlreiche, hartgefochtene Diskussionen sein. Das letzte Wort scheint hier noch nicht gesprochen zu sein.