Kizuna – Die Fesseln der Solidarität

Eine Kalligrafie von Abe Hirofumi, die das Schriftzeichen kizuna abbildet Kalligrafie: Abe Hirofumi

Von Evamaria Itose-Agy

Am 11. März 2011 löste ein Seebeben vor der Küste Nordjapans einen Tsunami aus, durch den über 15.000 Menschen zu Tode kamen. Das Atomkraftwerk „Fukushima I“ wurde so stark beschädigt, dass es zu mehreren Kernschmelzen kam. Die Katastrophe erstreckte sich nicht nur auf die Landschaft, Infrastruktur und Politik des Landes, sondern hatte auch Veränderungen in der Sprache zur Folge. Seit dem 11. März tauchten überall in Japan Schlagworte auf – eines davon ist das zum Schriftzeichen des Jahres 2011 gewählte Wort kizuna.

Ursprünglich bezeichnet kizuna jene Bande oder auch Fesseln, mit denen Tiere, wie Hunde oder Pferde, festgebunden werden. Diese Bedeutung wurde erstmals im Wamyosho, einem Wörterbuch aus der Heian-Zeit, festgehalten.

Im gegenwärtigen Japan bedeutet kizuna „zwischenmenschliche Bande“. Nach dem 11. März wurden diese Bande immer wichtiger, um alle Menschen Japans zu motivieren, eine Rolle beim Wiederaufbau oder bei der Unterstützung der Krisenregion Nordjapans einzunehmen.

Heute wird kizuna als Schlagwort für allerlei wohltätige Aktionen verwendet. Neben dem Hilfsprojekt des Musikers Sakamoto Ryuichi, „Kizuna World“,
finden eine Reihe von Charity-Konzerten, Kinderhilfsprojekten, sowie Bustouren Ehrenamtlicher nach Fukushima unter dem Schlagwort kizuna statt.

Der Begriff wird auch gerne als Zeichen des Gedenkens an das Tohoku-Erdbeben herangezogen. So wurde unter anderem in Minami-Soma in Fukushima ein kizuna-Keyaki Baum als Zeichen des Wiederaufbaus gepflanzt und in Numatacho in Hokkaido wurde zu Silvester 2011 mit 108 Fackeln das Schriftzeichen kizuna gebildet.

Anscheinend wurde kizuna nach dem 11. März auch ein gutes Verkaufsargument. Der Trend einer tomo-choko (Freundschaftsschokolade) zum Valentinstag wandte sich zu einer kizuna-Schokolade und ebenfalls rechtzeitig vor dem Valentinstag erstellte eine Hotelkette in Osaka den speziell auf Paare ausgerichteten „Kizuna Plan“ für eine Übernachtung in einem Doppelzimmer zwischen dem 1. Februar und 14. März 2012.

Welche Anziehungskraft kizuna auf die Menschen in Japan ausübt, zeigt auch ein Werbespot der Versicherungsfirma Hokenichiba. Der Spot namens „Kizuna – Menschen, die beschützt werden müssen“ erzielte in den ersten drei Wochen seiner Veröffentlichungen auf Youtube mehr als 100.000 Klicks und betont „das kizuna in der Familie, über das seit dem Tohoku-Erdbeben erneut nachgedacht wird“.

Heute kommt kaum eine Politikerrede ohne die Betonung von kizuna aus. Das japanische Außenministerium präsentierte beim Fifth Pacific Island Meeting einen „Kizuna Plan“, unterteilt in „Solid Kizuna“, „New Kizuna“ und „Strong Kizuna“. Er soll den internationalen Austausch zwischen Japan und anderen Ländern der Pazifikregion stärken.

Am 31. März 2012 protestierten circa 400 Personen lautstark gegen die Pläne des Ministers Hosono, Schutt aus den Katastrophengebieten in den Müllverbrennungsanlagen Kyotos zu verbrennen. Unter die Demonstranten mischten sich auch Gegendemonstranten, die mit Schildern mit der Aufschrift „kizuna“ für die Verbrennung des Mülls in Kyoto standen.

Als besorgte Eltern explizit wünschten, dass für das Schulessen ihrer Kinder keine Lebensmittel aus Tohoku (insbesondere Fukushima) verwendet werden, meinte der Stadtabgeordnete des Tokyoter Bezirks Itabashi, Motoyama Yoshiyuki, man solle nicht egoistisch sein, sondern „die Schmerzen Tohokus miteinander teilen“. Auch das ist kizuna.

Der Schauspieler und Essayist Ozawa Shoichi steht dieser überschwänglichen Aufnahmefreudigkeit, mit der sich kizuna nun in Japan verbreitet hat, skeptisch gegenüber. „Für jemanden in meiner Generation ist kizuna ein etwas Angst einflößendes Wort“, erzählt der 83-Jährige in einem Interview mit der japanischen Tageszeitung Mainichi. Er verstünde zwar, dass es für die junge Generation ein unverbrauchter Begriff sei, aber wenn man diesen zu sehr betone, käme man zurück auf den verhängnisvollen Weg von ichioku isshin („Einhundert Millionen Menschen, ein Herz“), Japans Slogan zur totalen Mobilmachung des Volkes im Zweiten Weltkrieg.

Kizuna hat nicht nur die ursprüngliche Bedeutung von Fesseln, die Tiere festbinden, sondern kann auch hodashi gelesen werden, was so viel bedeutet wie „etwas, das die Freiheit einschränkt“. Vor allem nach einer Katastrophe wie der vom 11. März 2011 ist klar, dass kizuna – die zwischenmenschlichen Bande – für jeden Einzelnen, aber auch für die gesamte Gesellschaft von großer Bedeutung ist, jedoch sollte dieser Ausdruck nicht überstrapaziert oder gar als Slogan für die eigenen wirtschaftlichen oder politischen Interessen verwendet werden.